Nr. 117/2025

Welchen Bedrohungen sind Forschende heute ausgesetzt? Quinn: Wir beobachten die ganze Bandbreite von Bedrohungen – von leich- ten Formen der Belästigung bis hin zu Inhaftierungen und Tötungen. Scholars at Risk konzentriert sich auf die schwers- ten Fälle: Gewalt, Verfolgung und unrecht- mäßige Inhaftierung. Eine Stufe darunter findet man gezielte Belästigungen – Doxing, digitale Hetze, Einschüchte- rung und manchmal physische Bedro- hungen. Selbst ohne direkte Attacken ist der chilling effect tiefgreifend: Angst, Iso- lation, Selbstzensur. Wir beobachten das sogar in Ländern, die sich selbst noch als sicher betrachten, wie etwa den USA, wo Reiseverbote und politische Einmischung zunehmen. Letztendlich schaden diese Bedrohungen nicht nur den Einzelperso- nen – sie untergraben auch die Fähigkeit der Universitäten, der Öffentlichkeit zu dienen, Wissen zu produzieren und zur gesellschaftlichen Entscheidungsfindung beizutragen. Wo ist die Situation am besorgniser- regendsten? Quinn: Leider sind alle Regionen betroffen. Unser aktueller Free to Think Report dokumentiert 395 Angriffe in 49 Ländern. Zu diesen Angriffen zählen Inhaftierungen, Überwachung und Aus- weisungenaus konfliktgeprägtenStaaten– aber auch Eingriffe durch die Gesetzge- bung, ideologische Einschränkungen und öffentliche Hetze in demokratischen Gesellschaften. Was sich geändert hat, ist das öffentliche Bewusstsein: Univer- sitäten in Europa oder Nordamerika kön- nen nicht mehr davon ausgehen, dass ihr Arbeitsumfeld per se sicher ist. In vielen Demokratien nimmt der Druck zu, wis- senschaftliche Expertise und evidenzba- sierte Debatten zu delegitimieren. Herr Schlögl, seit zehn Jahren gibt es nun die Philipp Schwartz-Initiative (PSI), um gefährdete Forschende zu unterstützen. Wie hat sich die Realität seitdem verändert? Robert Schlögl: Die Initiative wurde 2015 ins Leben gerufen als Reaktion auf die Entwicklungen im Nahen Osten, ins- besondere in Syrien. Seitdem hat sich die Weltkarte der Bedrohungen dramatisch verändert: Russland, die Ukraine, Afgha- nistan – ebensowie die Krisen, die dadurch entstanden sind und systemische Risiken für ganze akademische Gemeinschaften mit sich gebracht haben. Was sich ebenfalls verändert hat, ist unsere Wahrnehmung: Bedrohungen verbreiten sich schneller. Die sozialen Medien sorgen dafür, dass sich Angst sofort ausbreitet. Forschende über- all spüren die Verletzlichkeit der Wissen- schaftsfreiheit unmittelbarer. Der jüngste Hotspot, wowissenschaftli- che Freiheit unter Druck steht, sind die USA. Gibt es von dort schon Anfragen für eine PSI-Förderung? Schlögl: Wir haben bislang eine einzelne Anfrage aus den USA erhalten. Eines möchte ich ganz deutlich sagen: In Deutschland wird in Debatten mitunter nahegelegt, die Lage in Russland und die in den USA seien in Bezug auf die Wis- senschaftsfreiheit vergleichbar. Doch das sind sie eindeutig nicht. Trotz aller Bedenken und aller Diskussionen, die wir führen, sind die Unterschiede erheblich. Und dann ist da natürlich noch China, ein Land ohne freie Forschung aber mit einem enormen wissenschaftlichen Output. Ist das nicht einWiderspruch? Schlögl: China ist ein besonders inte- ressanter Fall. Die Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit dort wird aufgrund der schieren Größe des Wissen- schaftssystems in gewisser Weise tole- riert. Wenn ich mit Menschen spreche, bringen sie die Auswirkungen der gra- vierenden Probleme Chinas nicht mit feh- lender Forschungsfreiheit in Verbindung. Das reine Ausmaß an wissenschaftlichen Aktivitäten undMöglichkeiten führt dazu, dass die repressiven Aspekte – etwa der Gedanke, dass die Kommunistische Par- tei sämtliche wissenschaftlichen Pro- zesse kontrolliert – kaum zu spüren sind. SCHWERPUNKT 10 JAHRE PHILIPP SCHWARTZ-INITIATIVE 22

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