Nr. 110/2019

HUMBOLDTIANER PERSÖNLICH Foto: Sytse van Slooten Die französische Chemikerin DR. LUCIE JARRIGE ist Humboldt-Stipendiatin an der Philipps-Universität Mar- burg. Sie erforscht, wie mithilfe von Licht Moleküle umgewandelt werden können, ohne dass schädliche Nebenprodukte entstehen. „Grüne Chemie“ liegt Lucie Jarrige am Herzen. Das bin ich an der Kletterwand bei der Paraclimbing-Welt- meisterschaft 2018 in Innsbruck. Dort wurde ich zum zwei- ten Mal Weltmeisterin in der Kategorie „AL-2“, der Wett- kampfklasse für Athletenmit Fehlbildung oder Amputation eines Beines. Erst vor wenigenWochen konnte ich den Titel in Brian Ç on verteidigen. Das war absolut überwältigend! Ich kämpfe gegen die Wand, wie ich gegen den Krebs gekämpft habe. Und ich besiege dieWand, wie ich den Krebs besiegt habe. Durch das Klettern und meine Geschichte bin ich ein Mensch geworden, der niemals aufgibt, ganz nach oben will und jeden Moment des Lebens genießt. Ich stamme aus der kleinen französischen Gemeinde Monflanquin in der Region Nouvelle-Aquitaine, rund 160 Kilometer südöstlich von Bordeaux. Bevor ich mit 15 an Knochenkrebs erkrankt bin und mein linkes Bein oberhalb des Knies amputiert werden musste, bin ich geschwommen. Mit dem Klettern habe ich erst vor gut sechs Jahren angefangen. Als ich für meinen Master nach Paris gezogen bin, habe ich viele neue Leute kennenge- lernt, unter anderem auch den Vorsitzenden eines Kletter- vereins. Er hat mich ermuntert, in die Kletterhalle zu gehen und es einfach mal auszuprobieren. Auch mit nur einem Bein. Ich habe es ausprobiert. Und es hat mir auf Anhieb gefallen. Nur drei Jahre später, 2016, wurde ich in Paris zum ersten Mal Weltmeisterin im Paraclimbing. Wenn man Krebs überlebt, reift man viel schneller. Vor der Krankheit wollte ich Pharmazeutin werden und denMenschen helfen, indem ich ihnenMedikamente ver- kaufe. Dann habe ich viel Zeit im Krankenhaus verbrin- gen müssen und dort mit vielen Menschen, Medizinern, Krankenschwestern und Pflegern über meinen Berufs- wunsch gesprochen. Das waren für mich sehr aufschluss- reiche und wichtige Gespräche. Denn durch sie habe ich gemerkt, dass ich mich eigentlich mehr für die Forschung interessiere, dass ich Medikamente entwickeln möchte, um die Gesundheit von Menschen zu verbessern. In dem Moment habe ich beschlossen, Chemikerin zu werden. Auf die Weltmeisterschaften habe ich mich akribisch vorbereitet. Nach zehn bis zwölf Stunden im Labor habe ich noch vier Stunden in der Kletterhalle verbracht. In der heißen Vorbereitungsphase sogar fast jeden Tag. Das waren schon ziemlich lange Tage, aber das macht mir nichts. Ich liebe die Wissenschaft und ich liebe meinen Sport. Sie sind mein Leben! Ich träume davon, 2024, wenn möglich, an den Olym- pischen Spielen in Paris teilzunehmen. Und auch eine Medaille zu gewinnen. Aufgezeichnet von MAREIKE ILSEMANN ÜBER DEN DINGEN 3 HUMBOLDT KOSMOS 110/2019

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