Aktuelles

Der Terrorangriff der Hamas und die Folgen: Stimmen aus dem israelischen Netzwerk

  • vom
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Kontakt

Presse, Kommunikation und Marketing
Tel.: +49 228 833-144
Fax: +49 228 833-441
presse[at]avh.de

Die Klagemauer in Jerusalem mit betenden Menschen. Rechts im Vordergrund unscharf eine Israel-Flagge
Westmauer (Klagemauer) in Jerusalem

„Lasst uns nicht nur Zuschauer*innen sein, sondern als Anwälte von Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden auftreten, die für den tiefen Respekt vor der Würde des menschlichen Lebens eintreten – und zwar des Lebens aller Menschen“, heißt es in einem offenen Brief der Wissenschaftsorganisationen Israels an die akademische Welt. Die Humboldt-Stiftung teilt diese Auffassung, hat die bestialische Attacke der Hamas verurteilt und steht in Solidarität mit den Freund*innen in Israel. „Ich bin sehr besorgt über den Antisemitismus und die Situation im Nahen Osten. Ich appelliere an alle Mitglieder der Humboldt-Familie, wo immer nötig für die Sicherheit von jüdischen Kolleg*innen und Studierenden egal welcher Nation einzustehen“, sagte Stiftungspräsident Robert Schlögl. Was das Massaker der Hamas für Folgen hat, berichten hier die Humboldtianer Assaf Gal (Rehovot, Israel) und Omri Boehm (New York, USA, z.Z. München, Deutschland).

Humboldt-Stiftung: Dr. Gal, Rehovot liegt nur 50 km Luftlinie von Gaza entfernt. Welche Auswirkungen hatte der 7. Oktober auf Ihre tägliche Arbeit am Weizmann-Institut und das Wissenschaftssystem in Israel insgesamt?
Assaf Gal: Meine Forschungsgruppe besteht aus zehn Mitgliedern, fünf von ihnen sind jetzt im Ausland, zwei sind eingezogen worden, wir sind also noch drei. Zurzeit erleben wir noch ungefähr jeden zweiten Tag Alarm wegen Raketenbeschuss. Wir können also nicht normal arbeiten. Viele Studierende sind eingezogen worden und kurz nach der Attacke sollten möglichst wenig Menschen auf der Straße sein. Der Beginn des akademischen Jahres in Israel ist verschoben worden, denn viele Studierende sind nicht da und viele Einrichtungen haben nicht genug Schutzräume. Im Dezember soll es aber wieder aufgenommen werden.

Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Assaf Gal erforscht am Weizmann Institute of Science in Rehovot, durch welche Mechanismen Algen komplexe anorganische Materie bilden, deren spektakuläre, mineralogische Morphologie jedes menschgemachte Material übertrifft. Gal war von 2015 bis 2017 Humboldt-Forschungsstipendiat am Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam.

Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm ist Associate Professor an der New Yorker New School for Social Research, an der auch Hannah Arendt lehrte. Mit einem Humboldt-Forschungsstipendium war er von 2015 bis 2018 Postdoktorand an der LMU München, wo er gerade erneut zu Gast ist. Boehm ist u.a. Verfasser des 2020 erschienenen Buches Israel – Eine Utopie (Ullstein).

Porträtfotos von Gal und Boehm als Collage
Assaf Gal und Omri Boehm

Professor Boehm, wie schätzen Sie die Folgen der Hamas-Attacke auf die israelische Gesellschaft ein?
Omri Boehm: Israel wurde immer als sichere Heimstatt wahrgenommen. Wie sicher wir wirklich waren, stand auf einem anderen Blatt. Wir waren uns darüber im Klaren, dass wir an einem gefährlichen Ort lebten, in einer angespannten Situation. Um ehrlich zu sein, haben wir uns nicht hundertprozentig sicher gefühlt, sondern darauf gesetzt, dass wir uns militärisch verteidigen können. Ja, die Bedeutung Israels als Heimstatt erwuchs nicht aus einem Gefühl der Sicherheit, sondern aus der Fähigkeit, sich aus eigener Kraft schützen zu können. Und dieses Gefühl ist in der Tat untergraben worden und es wird dauern, es wieder herzustellen. Ich fürchte, viele Menschen wollen diesen Vorgang beschleunigen, indem man kriegerisch gegen Gaza vorgeht.

Welche Reaktionen erlebten Sie infolge der Attacke, Dr. Gal?
Assaf Gal: Wir haben viel unterstützende Post, Letters of Sympathy aus aller Welt bekommen – zum Beispiel auch von der Max-Planck-Gesellschaft in Deutschland –, aber manches was wir aus Amerika hörten, war wirklich verstörend. Und es hat weh getan, dass sich pro-palästinensische Demonstrationen auf Universitätsgeländen in Amerika mit Fake-News und antisemitischen Parolen vermengt haben. Viele israelische Akademiker*innen verbrachten plötzlich die Hälfte ihrer Zeit damit, gegen falsche Narrative in den sozialen Medien vorzugehen.

War es unangemessen, als UN-Generalsekretär Guterres zu bedenken gab, dass die Attacke nicht in einem Vakuum stattgefunden hat?
Omri Boehm: Ich denke, Guterres war ein gutes Beispiel dafür, dass Kontextualisierung möglich ist, ohne die Attacke zu rechtfertigen. Guterres hat die Verbrechen der Hamas als solche deutlich benannt und unterstrich, dass der Kontext verstanden werden muss. Wenn man Kontext grundsätzlich leugnet, verschreibt man sich der gefährlichen Idee, dass die Situation nicht politisch und rational angegangen werden kann, sondern nur durch Machtausübung. Jene, die Guterres Kontextualisierung kritisierten, sind oft die, die sich über mangelnde Verurteilung des Hamas-Verbrechens aufregen, aber selbst versagen, Israels Rechenschaftspflicht gegenüber dem internationalen Völkerrecht zu benennen. Sei es in diesem Krieg oder im erweiterten israelisch-palästinensischen Kontext.

Assaf Gal: In diesem Konflikt gibt es nicht weiß und schwarz, sondern viele Grauzonen, die berücksichtigt und gewichtet werden müssen. Ich habe mit einer 17-Jährigen im Bekanntenkreis gesprochen, die sich vor Wut sehr rücksichtslos äußerte, den Tod von Unschuldigen auf palästinensischer Seite begrüßte. Wir müssen den oft jungen, radikalen, schwarz-weiß denkenden Menschen ob hier oder anderswo, egal auf welcher Seite, die Komplexität begreiflich machen, im Gespräch bleiben. Ich begrüße die rationale Herangehensweise der Wissenschaftsorganisationen und die Forderung, dass jedes Leben Respekt verdient.

„Lasst uns nicht nur Zuschauer*innen sein, sondern als Anwälte von Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden auftreten, die für den tiefen Respekt vor der Würde des menschlichen Lebens eintreten – und zwar des Lebens aller Menschen“, heißt es im Aufruf der israelischen Wissenschaftsorganisationen. Da wir Zeugen der Situation in Gaza werden, müssen wir noch mal betonen: jedes menschlichen Lebens.
Omri Boehm

Professor Boehm, Sie erleben gerade, wie das Geschehen in Israel und Gaza auch auf die deutsche Gesellschaft übergreift. Wie sehen Sie die deutsche Position?
Omri Boehm: Deutschland befindet sich in einer schwierigen Position. Auf der einen Seite hat es Verantwortung gegenüber Israel und dem jüdischen Leben, das geschützt werden muss. Auf der anderen Seite ist es dem Völkerrecht verpflichtet. Beides geht auf universale Verpflichtungen aber auch auf die Lehren aus der deutschen Geschichte zurück. Beides ist notwendig, um die deutsche Staatsangehörigkeit auch für Menschen jenseits der sogenannten „bio-deutschen“ Identität zu öffnen. Der aufkeimende Antisemitismus stellt diese Offenheit vor Herausforderungen. In meinen Augen ist es sowohl für die deutsche Außenpolitik wie auch für eine moderne Definition von Staatsangehörigkeit wichtig, sowohl die Verantwortung gegenüber Israel als auch gegenüber dem Völkerrecht herauszustellen.

Wie könnte eine Lösung nach dem Krieg gegen die Hamas aussehen? Wie kann eine Ko-Existenz von Israelis und Palästinenser*innen erreicht werden?
Omri Boehm: Es ist schwer vorherzusagen, wie man vorankommen kann. Was immer mehr aus dem Bewusstsein verschwindet, aber unbedingt bewahrt werden muss, ist das Engagement für eine politische Lösung des Konflikts anstatt einer militärischen. Da meine Minimalhoffnung darauf immer mehr schwindet, begrüße ich sogar das Lippenbekenntnis jener, die überhaupt wieder eine Zweistaaten-Lösung ins Spiel bringen, die ich schon lange für passé gehalten hatte: Solange Menschen Engagement für zwei Staaten zeigen, setzen sie sich für eine Lösung ein, die das Recht beider Völker anerkennt, auf diesem Territorium zu leben. Ich fürchte allerdings, dass zwei Staaten jetzt nicht wahrscheinlicher sind als vorher – dass also entweder eine Form der Föderation zumindest im Entstehen begriffen wäre, was jetzt völlig utopisch erscheint, oder dass die Gewalt, wie wir sie am 7. Oktober und danach gesehen haben, in Massenvertreibungen enden wird.

Assaf Gal: Als Wissenschaftler, denke ich, sollten wir bescheiden sein und davon ausgehen, dass eine umfassende Lösung zurzeit nicht realistisch ist. Der militärische Konflikt wird die Hamas als Hauptbedrohung für Israel vernichten. Aber die politische Dimension bleibt komplex auf so vielen Ebenen, dass selbst eine zeitlich beschränkte Einigung in und rund um Gaza eine Errungenschaft wäre. Uns in diese Richtung zu bewegen ist aber schwierig, da viele Menschen auf beiden Seiten verzweifelt sind und sich weigern, an die Zukunft zu denken. Ich versuche als Mensch immer optimistisch und hoffnungsvoll zu sein. Die radikalen Veränderungen in der Beziehung zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden nach der Shoah bezeugen, dass Menschen sehr wohl etwas ändern können und auch sollten.

vorheriger Eintrag Wissenschaftlerin aus Kolumbien: Forschung für Alle
nächster Eintrag Talentscouting weltweit: Gemeinsam staunen