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Proteste und Demokratieentwicklung in Kasachstan

Zur Situation in Kasachstan nach den Unruhen Anfang des Jahres fragten wir bei der Humboldtianerin Tolganay Umbetalijewa nach.

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Protest in Kasachstan
Sturm auf das Rathaus in Kasachstans größter Stadt Almaty
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

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Zu Jahresbeginn 2022 kam es in Kasachstan zunächst wegen gestiegener Kraftstoffpreise zu Protesten. Am 5. Januar wurden in mehreren Städten Regierungsgebäude, Banken, Autos und Geschäfte in Brand gesteckt oder geplündert. Präsident Tokajew griff hart durch und erteilte einen Schießbefehl. Schließlich rief er Soldaten der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) aus Russland, Belarus, Armenien, Tadschikistan und Kirgistan ins Land, die wohl mittlerweile wieder abgezogen wurden. 1991 hatte die Republik Kasachstan ihre Unabhängigkeit erklärt. Bis 2019 war Nursultan Nasarbajew Präsident, galt aber auch danach noch als mächtigster Mann im Land. Auf ihn folgte Kassym-Schomart Tokajew.

Humboldt-Stiftung: Frau Umbetalijewa, wir lasen von vielen getöteten und etlichen Tausend festgenommenen Menschen. Wie erleben Sie die Situation in Kasachstan derzeit?
Tolganay Umbetalijewa: Wenn wir von Präsident Tokajews Aussage ausgehen, dass etwa 20.000 Menschen Kasachstans größte Stadt Almaty angegriffen haben, dann wird die Zahl der Festgenommenen im ganzen Land wahrscheinlich noch steigen (laut Berichten auf mittlerweile rund 12.000, ZEIT online 12.1.22; Es seien 225 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 4300 Menschen wurden verletzt, teilten die Behörden mit, tagesschau 15.1.22). Obwohl die Behörden versichert haben, dass die Teilnehmer*innen friedlicher Kundgebungen nicht festgenommen oder bestraft werden, gibt es bereits Informationen, dass es in anderen Städten doch Inhaftierungen gab.
Inzwischen stabilisiert sich die Situation in Almaty und anderen Städten. Der öffentliche Verkehr beginnt wieder zu funktionieren, die Versorgung mit Nahrungsmitteln hat sich verbessert. Natürlich gibt es nach wie vor Checkpoints an Ein- und Ausfahrten von Städten und der Ausnahmezustand gilt bis zum 19. Januar. Aber die Bewohner der Stadt kommen wieder zu sich und fangen an zu diskutieren, was sie selbst gesehen und erlebt haben.

Sie arbeiten für die Central Asian Foundation for the Development of Democracy. Gibt es Einschränkungen für die Arbeit der Stiftung?
Ich bin die Leiterin der Zentralasiatischen Stiftung für Demokratieentwicklung, aber derzeit in Elternzeit. Wir machen wissenschaftliche Projekte und haben in Kasachstan verschiedene soziologische Studien zu politischen Themen durchgeführt. Der Staat hat uns vor meiner Elternzeit keine ernsthaften Hindernisse in den Weg gelegt. Ich kann mich nur an einen Versuch der Einflussnahme seitens der Sicherheitsbehörden erinnern, als es nämlich um die Ereignisse in der Stadt Zhanaozen in Westkasachstan ging (Anm. der Redaktion: Im Dezember 2011 kam es nach Protesten von Arbeitern der Öl- und Gasindustrie zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei, mit etlichen Toten und rund 100 Verletzten. Das sogenannte „Zhanaozen-Massaker“ zurzeit des Präsidenten Nursultan Nasarbajew gilt als die erste gewalttätige Niederschlagung von Demonstrationen seit der Unabhängigkeit Kasachstans 1991).
Leider werden Menschenrechtsorganisationen jedoch regelmäßig Finanzprüfungen von staatlichen Stellen unterzogen. Durch die „Farbenrevolutionen“ (unbewaffnete, meist friedliche, jedoch nicht immer gewaltfreie Regimewechsel in den frühen 2000er Jahren, z.B. in der Ukraine oder Kirgistan) wurde der Staat misstrauisch gegenüber NGOs, daher wurden die aktivsten von ihnen kontrolliert und mussten ihre Aktivitäten vorübergehend einstellen.

Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Dr. Tolganay Umbetalijewa

Die Politologin war mit einem Georg Forster-Forschungsstipendium der Humboldt-Stiftung 2006 und 2007 am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zu Gast und kam 2015 für einen erneuten Deutschlandaufenthalt an die Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Sie leitet die Central Asian Foundation for the Development of Democracy in Almaty, Kasachstan, und ist Mitglied des Stiftungsrats des CAISS (Central Asia Institute for Strategic Studies).

Porträtfoto von Tolganay Umbetalijewa

Was bedeuten die Unruhen für die Demokratieentwicklung in Ihrem Land?
In der Geschichte des unabhängigen Kasachstan kann man jetzt zwei große politische Unruhen benennen, die in der Stadt Zhanaozen (2011) und die aktuelle „Tragödie von Almaty“. Meiner Meinung nach trugen beide dazu bei, die Idee der Demokratie in der Bevölkerung zu verankern: Die politischen Autoritäten schenkten in den 1990er Jahren den Aktionen ihrer Gegner in der Zivilbevölkerung keine große Aufmerksamkeit und betrachteten diese nicht als ernsthafte Konkurrenten. In den 2000er Jahren dann, nach einer Reihe von „Farbenrevolutionen“ im postsowjetischen Raum, revidierte die Staatsführung ihr Verhältnis zu Kritiker*innen. Sie begann, in jedem Protest eine Bedrohung zu sehen. Die Ereignisse in Zhanaozen wurden dabei zu einem Schlüsselmoment. Sie änderten zwar nicht das politische Regime, aber sie förderten die Bildung demokratischer Werte in der Gesellschaft, den Wunsch nach demokratischen Transformationen und Partizipation. Die Bevölkerung dachte neu über den Begriff Demokratie und verschiedene Formen des Kampfes für ihre Rechte nach.

Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Humboldt-Gastinstituten?
Ja, ich bin ständig in Kontakt mit Kolleg*innen aus Deutschland, insbesondere von der Humboldt- und der Bremer Universität. Ich habe mich gefreut, in diesen Tagen Schreiben und Anrufe von Kolleg*innen aus Deutschland zu bekommen. Sie waren besorgt und haben gefragt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ihnen allen sei hierfür herzlich gedankt.

Was bedeuten die Unruhen für die internationale Zusammenarbeit?
Aus solchen Situationen wie den aktuellen Unruhen entstehen einerseits neue Projekte, denn die Konflikte erfordern eine wissenschaftliche Beschreibung, Reflexion und Analyse. Sie aktivieren also durchaus Kooperationen. Andererseits erschweren sie aber auch die Umsetzung von Workshops, Konferenzen und Feldstudien.

Zunächst war von spontanen Protestaktionen wegen erhöhter Treibstoffpreise die Rede. Präsident Tokajew sagte, laut deutscher Medien, es handelte sich um den Versuch eines Staatsstreichs mit Gruppen bewaffneter Kämpfer. Dem früheren Präsidenten Nasarbajew werde Hochverrat vorgeworfen, sein Aufenthaltsort war unklar. Vermischen sich hier verschiedene Konflikte?
Sie haben Recht, wir sprechen von mehreren Konflikten. Die erste Konfliktlinie ist die Verschlechterung der sozialen Situation der Bevölkerung, die Zunahme der sozialen Ungleichheit, die Unzufriedenheit hervorruft. Die zweite Konfliktlinie ist der interne Machtkampf zwischen Mitgliedern der Familie des früheren Präsidenten Nasarbajew und dem amtierenden Präsidenten Tokajew. Die dritte Konfliktlinie ist das Verhältnis zwischen religiösen Kräften (einige Mitglieder der Familie Nasarbajew waren mit islamischen religiösen Bewegungen verbunden) und staatlichen Stellen. In dieser Unordnung kann man auch Probleme im Verhältnis von politischen Behörden und Sicherheitsbehörden sehen. Daraufhin wandte sich Präsident Tokajew hilfesuchend an die OVKS.

Was hoffen Sie für die Zukunft?
Natürlich hoffen wir in der Zukunft auf politische Reformen. Ich bin besorgt, dass ungelöste politische Probleme eine weitere Welle des Kampfes um die Macht auslösen könnten. Schließlich bleibt die Angelegenheit um „Jelbasy“ (den „Führer der Nation“) Nursultan Nasarbajew und Mitgliedern seiner Familie ungeklärt. Wo sind sie jetzt gerade? Und wenn tatsächlich Mitglieder der Familie des ersten Präsidenten hinter den Putschversuchen stecken, wie wirkt sich das auf das politische System aus? Wird der Kampf um die Macht im Land weitergehen? Es gibt noch viele Fragen.

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