Nr. 113/2021

Foto: privat PROFESSORIN DR. JUNIPER LYNN HILL aus den USA hat den Lehrstuhl für Ethnomusiko­ logie der Universität Würzburg inne. 2007/2008 war sie Humboldt-Forschungsstipendiatin in Bamberg. Im Mai 2021 wurde sie als Scout für das Henriette Herz-Scouting-Programm der Humboldt-Stiftung ausgewählt. Das Bild zeigt mich bei einem Shape Note Singing- Treffen in München – vor Corona, als gemeinsames Singen noch selbstverständlich war. Shape Note Singing ist eine Tradi- tion, die vor allem in den Südstaaten der USA verbreitet ist. Sie geht zurück auf das Liederbuch „The Sacred Harp“ von 1844. Die Notenköpfe darin sind als Dreiecke, Qua- drate, Kreise oder Rauten dargestellt. Das soll es einfa- cher machen, vomBlatt zu singen, auch ohne musikalische Vorbildung. Für mich ein sehr egalitärer Ansatz: Es geht nicht darum, perfekte Konzerte zu geben, sondern um die Freude am gemeinsamen Singen aus vollem Herzen. Da gehört es dazu, dass wir uns – statt zum Publikum – ein- ander zugewandt im Quadrat nach den Stimmlagen So- pran, Alt, Tenor und Bass aufstellen. Ich bin Ethnomusikologin. Musik hilft mir, Gesell- schaften und menschliche Erfahrungen besser zu verste- hen: Der Blick durch das musikalische Fenster gibt mir ein tieferes Verständnis, wie die betroffenenMenschen globale Phänomene wie etwa den Klimawandel, Migration oder politische Unruhen erleben. Und ich bin überzeugt, dass wir Musiktraditionen anderer Kulturen nur erfassen kön- nen, wenn wir sie selbst erfahren. Als ich 2017 als Professo- rin nachWürzburg gekommen bin, habe ich deshalb einen Studiengang mit Praxisteil entwickelt. Shape Note Singing war der erste Kurs, den ich dafür organisiert habe. Es gibt auch Kurse über afrikanische und arabische Musik, sogar fränkische Volksmusik war schon dabei. Ich selbst habe das Shape Note Singing in meiner Stu­ dienzeit in den USA kennengelernt. Als ich dann 2009 nach HUMBOLDTIANER*INNEN PERSÖNLICH Irland gegangen bin, habe ich dort einen Kurs dazu an der Uni angeboten – ein großer Erfolg. In Irland ist eine rich- tige Bewegung entstanden. Wir haben uns überall zum Singen versammelt, selbst in Pubs. Wir Shape Note Singers treffen uns für ganze Tage oder Wochenenden zu Conven- tions, manchmal mit mehr als 100 Menschen. Das geht in der Coronapandemie natürlich nicht. Wo möglich singen wir in kleineren Gruppen draußen. Gemeinsames Online- singen probieren wir auch, das ist allerdings schwierig, da es minimale Zeitverzögerungen gibt. Manchmal singt eine Person vor, die anderen schalten sich stumm und singen mit. Das ist nicht optimal, aber besser als nichts! In meiner Forschung beschäftige ich mich auch mit den sozialen und kulturellen Faktoren, die Kreativität beein- flussen. Beim Shape Note Singing beobachte ich immer wieder: Es ist wichtiger mit voller Stimme zu singen, als jeden Ton zu treffen. So verschwindet die Angst, es zählt die Freude am Singen und man wird freier, sich selbst aus- zudrücken. Genau darin liegt für mich ein Schlüssel zur Kreativität. Aufgezeichnet von TERESA HAVLICEK AUS VOLLEM HERZEN KEINE SCHEU Beim Shape Note Singing ist musikalische Vorbildung nicht wichtig. Es zählen Spaß und Engagement. 3 HUMBOLDT KOSMOS 113/2021

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