Ein Eldorado der Forschung – und der Bürokratie

Wissenschaftsbetrieb, Lebensbedingungen und Zwischenmenschliches: Nach ihrem Gastaufenthalt in Deutschland bewerten Geförderte der Humboldt-Stiftung das Leben und Arbeiten vor Ort. Entdecken Sie hier, welches Bild die Antworten aus den Jahren 2018 bis 2022 zeichnen.

  • Studie: Deutschland von außen 2023

Wer aus dem Ausland mit einem Stipendium der Humboldt-Stiftung nach Deutschland kommt, macht sich ein Bild von Universitäten und Forschungseinrichtungen, den Rahmenbedingungen im Alltag und lernt in unterschiedlichen Kontexten Menschen vor Ort kennen: Wie offen und tolerant begegnen die Deutschen ihren Gästen? Wie humorvoll, wie bürokratisch, wie fortschrittlich ist man hierzulande? Wie gut sind die Labore und die Bibliotheken ausgestattet? Wie steht es um Arbeitszeiten, Kinderbetreuung oder die Karrierechancen für Nachwuchsforschende?

Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Kontakt:

Dr. Meike Olbrecht
Leitung Referat Evaluation und Statistik
evaluation[at]avh.de

Durchführung der Studie / Aufbereitung der Daten:

Simon Grates
Referat Evaluation und Statistik
Stefan Wünsche
Referat Presse, Kommunikation und Marketing

Die Auswertung

All dies sind Fragen, die die Humboldt-Stiftung ihren Geförderten zum Abschluss ihres Stipendiums in einer Online-Befragung stellt. Im Durchschnitt verbringen Forschende und ihre Familien etwa eineinhalb Jahre in Deutschland. Die Humboldt-Stiftung hat das Feedback von mehr als 1800 Gastforschenden aus 119 Ländern ausgewertet, die von August 2018 bis Mai 2022 an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen tätig waren. Die Rückmeldungen zeigen, dass Deutschland und sein Wissenschaftssystem wie in der vorhergehenden Erhebung von 2019 sehr positiv wahrgenommen werden und auch im internationalen Vergleich überzeugen. Die bereits vor vier Jahren identifizierten Verbesserungspotenziale bleiben bestehen.

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Hintergrund: Bei der Online-Befragung am Ende ihres im Durchschnitt eineinhalb Jahre dauernden Forschungsaufenthalts bewerten die Geförderten der Stiftung unterschiedliche Aspekte auf vorgegebenen Skalen und haben die Möglichkeit, freie Kommentare abzugeben. Alle Antworten wurden anonymisiert ausgewertet, die Kommentare mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse. Mehr als 94 Prozent der Geförderten nahmen an der Befragung teil. Die Ergebnisse spiegeln damit ein umfassendes und repräsentatives Bild, welches sich die Stipendiat*innen der Stiftung von Deutschland machen.

The main bottlenecks during the stay in Germany were associated with adjusting to the culture, language and procedures. But these small issues were sorted near to the end of the fellowship owing to the language fellowship support from the Foundation. After a few months of the stay, it was also easy to acclimatise to the culture and procedural systems too.
Indien, m

Forschungsstandort Deutschland

Als Wissenschaftsstandort bekommt Deutschland im weltweiten Vergleich ausnahmslos gute Noten. Auf einer Skala von null bis zehn gibt es Topbewertungen in puncto Infrastruktur (8,1 im Durchschnitt aller Befragten), Qualität der Forschung (8,3), Finanzierungsmöglichkeiten für Projekte (8,3), Internationalität und Kinderbetreuung (beide 8,0). Die Ergebnisse unterscheiden sich stark je nach Herkunftsregion. So bewerten etwa die Geförderten aus Asien die Qualität der Forschung mit 8,6 Punkten besser als jene aus Nordamerika (7,1). Immer noch positiv, aber schwächer sind die Bewertungen zu Nachwuchsförderung und Dual-Career-Angeboten (beide 6,8), sowie zu den beruflichen Perspektiven (7,4).

Stärken und Schwächen gegenüber der Studie von 2019

Das Herkunftsland ist weiterhin ein wichtiges Kriterium in der Bewertung der Bedingungen in Deutschland. Dabei sind nur geringe Veränderungen zu verzeichnen. Geförderte aus Nordamerika bewerten jedoch Deutschland in fast allen Aspekten etwas besser als in der vorangegangenen Auswertungsrunde von 2013 bis 2018. Global bleibt die Bewertung des Gastlandes auf einem stabilen Niveau. Die beruflichen Perspektiven und allgemeinen Rahmenbedingungen in Deutschland werden sogar im Vergleich zu anderen Weltregionen besser eingeschätzt als 2019. Davon abweichend tritt bei der Bewertung der Situation von jungen Forschenden zutage, dass Nachwuchsförderung und Dual-Career-Angebote weiterhin als eher mäßig gut eingestuft werden.

Some aspects of German culture were difficult to adapt to, (…) but the single biggest issue is that we would have loved to stay in Germany, but the prospects for obtaining a permanent position here are basically zero. That is a huge problem for young researchers and inevitably results in the best researchers leaving the country.
Vereinigtes Königreich, m

Die Infrastruktur beeindruckt, aber nicht in allen Bereichen

Infrastruktur und Ausstattung an Hochschulen und Forschungseinrichtungen werden weiterhin als sehr gut (8,1) eingeschätzt. Hingegen wird das zunehmende Fehlen von Kindergarten- und Kitaplätzen von den Gastforschenden während ihres Aufenthalts als Belastungsfaktor empfunden: „Indem wir für eine Weile als Deutsche lebten, lernten wir die Schwierigkeiten kennen, mit denen die Menschen in Berlin zunehmend zu kämpfen haben: Wir konnten fast keine Kita für unsere beiden Kinder finden.“ (Niederlande, m). Insgesamt schneidet der Aspekt der Kinderbetreuung etwas schlechter ab als im letzten Auswertungszeitraum, steht aber zusammen mit anderen Work-Life-Balance-Kriterien im internationalen Vergleich weiterhin gut (8,0) da. Die Bewertung der Arbeitszeiten verbessert sich im Vergleich zum vorherigen Auswertungszeitraum leicht auf 7,7 Punkte. Zu den Themen Klima- und Ressourcenschutz wurden speziell Geförderte des Internationalen Klimaschutzstipendiums befragt. Auch hier ist eine positive Tendenz in der Wahrnehmung Deutschlands (8,6) zu verzeichnen.

Assoziationen mit Deutschland: wissenschaftsfreundlich, tolerant und sogar humorvoll

Nach ihrer Assoziation zu Deutschland auf einer Skala von minus bis plus fünf befragt, bewerten die Geförderten Deutschland als sehr wissenschaftsfreundlich (4,2 im Durchschnitt), demokratisch (3,8), geschlechtergleichberechtigt (3,2), gastfreundlich (2,8) und tolerant (2,7). In puncto Humor (1,2) und Offenheit (0,8) waren die Rückmeldungen weniger positiv. Auch sehen die Befragten Deutschland als etwas weniger fortschrittlich und gastfreundlich (beide 2,8) an als in der letzten Auswertung von 2019.

Sometimes people in Germany tend to assess performance and results without taking into account cultural, economic, ethnic or religious differences, factors that should be weighing in when it comes to fully understanding where a person comes from. Although that was not a constant, there were some encounters like this.
Ecuador, m

Auffallend in der Gesamtwertung ist ein negativer Trend: Deutschland wird als überwiegend bürokratisches Land gesehen (-1,3). Gegenüber der letzten Auswertung aus dem Zeitraum 2012 bis Mitte 2018 hat sich dieser Wert nochmal um 0,6 Punkte verschlechtert. Am schlechtesten schneidet Deutschland hier bei den Geförderten aus Nordamerika (-3,2) ab, während die Geförderten aus Asien die Deutschen als nicht ganz so bürokratisch (0,6) einstufen wie die Befragten aus anderen Regionen der Welt.

Länderschwerpunkt: Region nicht gleich Nation

Bei der Untersuchung einzelner Länder wird deutlich, wie heterogen die Perspektive innerhalb einer Region sein kann. Bei den europäischen Ländern bewerten Forschende aus Italien (7,6), Spanien (7,6) und Polen (7,4) die beruflichen Perspektiven in Deutschland deutlich besser als ihre skandinavischen (6,3) oder nordamerikanischen Kolleg*innen. Während die Forschenden aus den USA diesen Aspekt in Deutschland unter allen Befragten am schwächsten (5,1) beurteilen, schätzen sie im Vergleich zu ihren Kolleg*innen aus anderen Ländern die Arbeitszeiten (7,7) und Kinderbetreuungsangebote (8,1) hierzulande überdurchschnittlich. Ganz ähnlich sind die Rückmeldungen aus Schwellenländern wie China und Indien, welche ihrerseits eine gute Work-Life-Balance in Deutschland sehen. Obwohl die Antworten global nicht regionalen Clustern zuzuordnen sind, sticht eine Gruppe heraus: Die geringsten Vorteile gegenüber ihrem Herkunftsland sehen Forschende aus Skandinavien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich.

„Sometimes, very simple things turn into Kafkaesque situations”

Individuell geäußerte Kritik verdeutlicht drei Problemfelder: Sprachbarrieren, Bürokratie und Diskriminierung.
In freien Kommentaren sollten die Geförderten ihre persönlichen Erfahrungen schildern und Kritik zu den Themenschwerpunkten äußern. Von mehr als 1800 Befragten haben 1554 die Freitextfrage „Was haben Sie an Ihrem Deutschlandaufenthalt negativ wahrgenommen?“ beantwortet. Sehr häufig werden Sprachbarrieren, Bürokratie und Diskriminierung kritisiert. Insbesondere fehlende Fremdsprachenkenntnisse außerhalb des akademischen Umfeldes, werden als Problem identifiziert und erschweren notwendige Behördengänge:

It is truly difficult to make contact with local officials without knowing German, not even with the alien immigration office.
China, m

Der bereits auf der Skala von minus fünf bis plus fünf einzig negative Wert der Kategorie Bürokratie sticht auch bei den Freitextantworten heraus. Die Verschlechterung von 0,6 Punkten insgesamt, bei Befragten aus Subsahara-Afrika sogar um 1,2, zeigt, dass diese Wahrnehmung gleichermaßen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer betrifft. Wenngleich die Begründungen hierfür in den Freitextantworten unterschiedlich ausfallen, verdeutlichen sie den Handlungsbedarf auf diesem Gebiet:

Quote:“Coming from USA, the level of bureaucracy was unexpectedly high. While Humboldt staff made things easy, other interactions (including international office, local city registration requirements and visas for my family) were often very stressful. – USA, m
Quote:“German bureaucracy is challenging to navigate through. This is reflected in availability of appointments at administrative offices, attitude of officers, amount of paperwork involved, lack of digitisation, timeliness of processes, etc.” – India, m
Quote: “By far the very worst aspect of my stay was the bureaucracy involved in setting up my registration of address, tax ID, and residence permit in Berlin. I cannot overstate the extent to which the inefficiency of these processes, and the lack of available appointments and support, negatively impacted my time as a researcher in Germany.” - Australia, f

Die Antworten im Hinblick auf Diskriminierung und Rassismus zeigen, dass sich die Gesamtzahl (6%) diesbezüglicher Kommentare gegenüber der letzten Auswertung kaum geändert hat. Befragte mit einer Staatsangehörigkeit, die der Region Subsahara-Afrika zuzurechnen ist (10,0 Prozent) sahen sich am häufigsten mit Diskriminierung oder Ausländerfeindlichkeit konfrontiert. Befragte mit einer europäischen Staatsangehörigkeit (4,0 Prozent) waren am seltensten betroffen:

Quote:“During the Humboldt stay I experienced subtle racism and discrimination on more than one occasion. It usually comes from people who proclaim to have egalitarian values. I previously stayed in Germany for a few years and have never experienced this. What strikes me most is the complete denial of this covert racism and unwillingness to talk about these issues.” (Pakistan, f)
Quote:“There is a serious problem in Germany with racism. I personally didn't have many issues, but my wife who is from eastern Europe has had many encounters with luckily only verbally aggressive Germans, including other parents forbidding their kids to play with our son. I am happy that my son was too young to really understand any of that.” (Belgium, m)
Quote:“Racism, especially against those that are not white/Europeans, is rampant. From neighbours to grocers to even the police, we routinely were exposed to discriminatory actions at one point even to the extent of calling the police and prosecuting someone for criminal stalking and harassment.” (USA, m)

Frauen erwähnten diskriminierende Aspekte mit 6,2 Prozent etwas häufiger als Männer (5,1 Prozent) und sprachen in den Freitextantworten auch gezielt geschlechterspezifische Diskriminierung an:

A very little amount of discrimination I experienced based on my gender. (...) I think Germany in general is sufficiently progressive in gender issues, especially compared to some other places. However, German academia (or at least my field) is still quite male-centered and patriarchal, which is evidenced by the rarity of female professors.
Ungarn, w

Positives Fazit trotz Pandemie

In den Auswertungszeitraum fiel auch die Corona-Pandemie, weshalb deren Auswirkungen in fast der Hälfte aller Freitextantworten thematisiert wurden. Auffällig ist, dass Frauen häufiger negative Erfahrungen äußerten als ihre männlichen Kollegen und auch je nach der Herkunftsregion sehr unterschiedliche Rückmeldungen gemessen wurden: Mit 51,8 Prozent äußerten sich Personen mit einer mittel- und südamerikanischen Staatsangehörigkeit am häufigsten negativ, am seltensten Personen mit einer asiatischen Staatsangehörigkeit (25 Prozent). Die Äußerungen unterscheiden sich in Intention und Qualität jedoch sehr. Eine negative Äußerung kann sich einerseits auf die Auswirkungen auf den privaten Alltag oder den Forschungsaufenthalt beziehen, andererseits auf das Pandemie-Management im Vergleich zu dem Heimatland. Einige Befragte nahmen insbesondere die „Querdenker-Bewegung negativ wahr und die Anzahl von Menschen, die sich nicht an die Corona-Regeln gehalten haben.“ (Brasilien, m). Die Mehrzahl der Antworten thematisiert aber nicht die Corona-Schutzmaßnahmen oder die fehlende Einhaltung derselben, sondern die Auswirkungen auf den Forschungsalltag und die Integration in das Alltagsleben:

I needed help many times because of corona in the kindergarten or child minder. I had to stop many times experiments that made me lose the week. The lockdown was also quite hard. I am a microbiologist, so if I stop something in the middle of the week, it is hard to continue, and that was frustrating.
Argentinien, w

Obwohl in dem Fragebogen gezielt nach negativen Erfahrungen und entsprechenden Verbesserungsmöglichkeiten gefragt wird, gab es jenseits der pandemiebedingten Umstände und strukturellen Kritik auch zahlreiche positive Kommentare – nicht zuletzt zu den Forschungs- und Lebensbedingungen, aber auch der Arbeit der Stiftung.

As me and my wife did the language course, and were very open, we made a lot of good friends and I also progressed immensely in my career; we have not experienced any negative aspects of Germany.
Indien, m
Gesamtbewertung der persönlichen Erfahrungen auf einer Skala von null bis zehn (nach Regionen)