Humboldt Residency-Tagebuch

Jede Woche berichten die Teilnehmer*innen des Humboldt Residency-Programms, welche  persönlichen Highlights sie in der Arbeit als internationales und interdisziplinäres Team in Berlin erlebt haben.

Woche I / 8. Juli 2022

Gruppenfoto mit ca. 60 Personen in einem Garten
Netzwerktreffen: Humboldt Residency Kohorte 2022 und Bundeskanzler-Stipendiat*innen 2021/2022
Foto von oben auf die Teilnehmer*innen einer Veranstaltung in einem Garten
Eröffnungsworte: Residency-Gastgeberin Dr. Cynthia Miller-Idriss begrüßt die Teilnehmer*innen der Vernetzungsveranstaltung
Fünf Personen stehen um einen Tisch in einem Garten und diskutieren
Weltcafé: Residency-Kohorte und Bundeskanzler-Stipendiat*innen tauschen sich über verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenhalts aus
Sechs Personen sitzen an einem Tisch in einem Garten und diskutieren
Weltcafé: Residency-Kohorte und Bundeskanzler-Stipendiat*innen tauschen sich über verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenhalts aus
Elf Personen sitzen an einem Tisch in einem Garten und diskutieren
Weltcafé: Residency-Kohorte und Bundeskanzler-Stipendiat*innen tauschen sich über verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenhalts aus
12 Personen sitzen um einen Tisch in einem Zimmer mit Laptops und Notizblöcken und diskutieren
Treffen der Residency-Mitglieder im Co-Working Space in Berlin-Wedding

Gastgeberin Cynthia Miller-Idriss über die erste Residency-Woche in Berlin

Freitag war ein großer Tag für die Humboldt Residency-Kohorte und für mich als ihre kreative Leiterin. Ich fuhr, mit einem anderen Mitglied der Gruppe, auf dem Fahrrad durch die Stadt zu unserem wunderbaren gemeinschaftlichen Arbeitsplatz, und dann hatten wir zusammen mit den Teilnehmenden und Projektleiter*innen der Humboldt-Stiftung eine großartige Brainstorming-Sitzung. Es ging darum, welche Strukturen unser Denken und Lernen zu den verschiedenen Aspekten des sozialen Zusammenhalts erleichtern könnten. Am frühen Abend kamen wir mit 50 aktuellen Bundeskanzler-Stipendat*innen (PDF) zu einem Welt Café und Hoffest zusammen. Die Stipendiat*innen verbringen gerade eine Woche in Berlin – junge Menschen aus China, Indien, Russland, Brasilien und den USA, die das vergangene Jahr in verschiedenen deutschen Städten gelebt haben, um an ihren individuellen Forschungsprojekten zu arbeiten. Da ich selbst ehemalige Bundeskanzler-Stipendiatin bin, war das ein sehr nostalgischer Moment für mich. 22 Jahre nach meinem eigenen Stipendium wieder in Berlin zu stehen, mit einer neuen Gruppe, die übersprudelt von Energie, Fragen und Ideen zu vielen verschiedenen sozialen Problemen und Themen – das war ein ganz besonderes Gefühl! Wir hatten drei Roundtable-Sitzungen, aufgeteilt in acht Themenbereiche, und alle dauerten länger als vorgesehen. Den Diskussionen und Debatten über Themen, die uns am Herzen liegen, sind keine Grenzen gesetzt. Ich sehe den kommenden Wochen mit Begeisterung entgegen – einzutauchen in praktische, theoretische und empirische Diskussionen zum sozialen Zusammenhalt in verschiedenen nationalen Kontexten und in lokalen Settings. Und, was mir am wichtigsten ist: Wie wir es schaffen können diesen Zusammenhalt zu fördern, als Teil der größeren Aufgabe, nämlich die Demokratie zu stärken.

Dr. Cynthia Miller-Idriss, Professorin an der School of Public Affairs und der School of Education und Direktorin des Polarization and Extremism Research and Innovation Lab (PERIL), American University Washington, DC

Humboldt Residency-Programm: Durch mediale Formate, Veranstaltungen und Veröffentlichungen setzt dieses Programm sichtbare Impulse in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Das Programm stärkt Innovation durch transdisziplinäre Kooperation über die Grenzen der Wissenschaft hinaus. 

Woche II / 15. Juli 2022

Mitglieder der Residency-Kohorte im Gespräch mit den Gastgebern des Co-Working Spaces, der Bundesvereinigung Nachhaltigkeit
Mitglieder der Residency-Kohorte im Gespräch mit den Gastgebern des Co-Working Spaces, der Bundesvereinigung Nachhaltigkeit
Die Arbeitsgruppe "Demokratie" trifft sich zu ihrem Lunch-Talk
Die Arbeitsgruppe "Demokratie" trifft sich zu ihrem Lunch-Talk
Brainstorming zu neuen Projekten und interdisziplinären Formaten
Brainstorming zu neuen Projekten und interdisziplinären Formaten
Gemeinsames Arbeiten: Alexander Stagnell und Amina Atiq im PulsRaum
Gemeinsames Arbeiten: Alexander Stagnell und Amina Atiq im PulsRaum
Zeit für eine Kaffeepause und ein Gespräch: Amina Atiq, Julia Elad-Strenger und Alexander Stagnell
Zeit für eine Kaffeepause und ein Gespräch: Amina Atiq, Julia Elad-Strenger und Alexander Stagnell
Auszeit im Gemeinschaftsgarten: Amina Atiq und Julia Elad-Strenger
Auszeit im Gemeinschaftsgarten: Amina Atiq und Julia Elad-Strenger

Dr. Alexander Stagnell, Postdoctoral Research Fellow in Rhetorik, Södertörn University und Université libre de Bruxelles

Mit einem Turbostart hat die erste echte Arbeitswoche für die Humboldt Residency-Kohorte hier in Berlin begonnen. Am Montag zur Mittagszeit hatten zwei Diskussionsgruppen – eine zum Thema „Demokratie“ und eine zu „Gender und Sexualität“ – schon ihre ersten Sitzungen beendet. Und der Rest der Woche verlief ähnlich. Wenn eine Gruppe von Menschen, die sehr unterschiedliche Hintergründe haben, sich zum ersten Mal persönlich trifft, beginnen die Diskussionen oft langsam. So war es auch hier: Jede*r war ein bisschen zögerlich und unsicher, in welche Richtung es gehen oder auf welches Thema wir uns konzentrieren sollten. Doch schon nach wenigen Minuten nahmen die Diskussionen Fahrt auf: Praktische Beispiele wurden mit theoretischen Überlegungen verknüpft, die wiederum mit weiteren empirischen Fällen überprüft wurden. Eines der Mitglieder äußerte eine Beobachtung zu unseren Diskussionen: Wir alle neigten dazu, unsere Gespräche mehr auf die Bedrohungen zu fokussieren, mit denen sozialer Zusammenhalt konfrontiert ist, als auf die Wege diesen zu stärken. Möglicherweise, so führte dieses Mitglied weiter aus, habe das mit dem Charakter unserer jeweiligen Arbeit zu tun. Wir versuchen in erster Linie Probleme zu verstehen und zu analysieren und weniger eindeutige Lösungen anzubieten. Mich als Rhetorikforscher haben diese Diskussionen viel gelehrt darüber, wie meine Kolleg*innen sozialen Zusammenhalt verstehen. Rhetorik zu studieren, bedeutet herauszufinden, wie Menschen die Welt verstehen und wie sie andere von ihrer Sichtweise zu überzeugen versuchen. Mit den Problemen zu beginnen, die wir mit der Vorstellung von etwas wie sozialem Zusammenhalt verbinden, ist wahrscheinlich der bestmögliche Weg für uns in die Art von Arbeit einzusteigen, die wir für die Zeit des Projekts in Angriff nehmen wollen. Indem ich zugehört habe, wie andere Kohorten-Mitglieder über ihre Arbeit zu Themen wie Verschwörungstheorien, demokratische Legitimität oder Extremismus sprechen, habe ich verschiedene Begriffe von sozialem Zusammenhalt Form annehmen sehen, die aus der Art entstanden sind, wie ein spezifisches Problem sich darstellt. Nur auf diesem Weg, meine  ich, sind wir in der Lage sozialen Zusammenhalt als konkretes Konzept zu begreifen. Nachdem die Woche also einen Turbostart hingelegt hat, geht es jetzt an die Arbeit, Arbeit, Arbeit.

Alexander Stagnell wurde an der Universität Uppsala im Fach Rhetorik promoviert und ist derzeit Postdoctoral Research Fellow, gefördert vom Swedish Research Council. Sein Projekt “The Return of the Sophists? Democracy, Rhetoric, and Post-Truth in the Populist Moment” wird von der Södertörn University und der Université libre de Bruxelles mitbetreut und erforscht den Zusammenhang zwischen Wahrheit, Rhetorik und Populismus in der zeitgenössischen Demokratie unter dem Fokus auf die Figur des Sophisten im politischen Denken. 

Woche III / 22. Juli 2022

Forscherin bei der Arbeit: Christa Rautenbach im Co-Working Space PulsRaum
Forschungspräsentation: Lea Kuhar spricht über ihre Forschungsarbeit zu Marx
Mitglieder der Residency-Kohorte treffen sich mit Swen Hutter und seinen Kollegen vom Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung am WZB
Das Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung am WZB stellt die Leitthesen seines Forschungsprogramms vor
Diskussion zu verschiedenen Arten von Konfliktstrukturen und Protesten mit Wissenschaftler*innen des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung am WZB

Christa Rautenbach, ehrenamtliche Schatzmeisterin der Society of Law Teachers of South Africa, Beiratsmitglied der Commission on Legal Pluralism und des African-German Network of Excellence in Science

Warum erforscht eine Gruppe von zehn Menschen aus verschiedenen Ländern und Fachgebieten die Bedeutung von sozialem Zusammenhalt an einem Ort wie Berlin? Als ich am 1. Juli am Halleschen Tor aus der U-Bahn gestiegen bin, hat sich meine Frage zum Teil beantwortet. Hallesches Tor ist der Eingang zum Stadtteil Kreuzberg in Berlin. Im Internet wird Kreuzberg als „mixed neighbourhood“ bezeichnet, fast die Hälfte der Einwohnergemeinschaft sei nicht-deutscher Abstammung. Meine ersten Eindrücke der Gegend bestätigten die Beschreibungen im Netz. Es muss eine Herausforderung sein, in einem derart diversen Umfeld Zusammenhalt zu schaffen. Ein idealer Ort für großartige acht Wochen, in denen wir das Geheimnis sozialen Zusammenhalts ergründen wollen.

Die ersten Wochen der Residenzphase vergingen wie im Flug. Die dritte Woche war voller lebendiger Debatten und sozialer Aktivitäten. Zwei Teammitglieder wagten als erste den Sprung ins kalte Wasser und stellten ihre Pläne im Rahmen des Programms vor. Der Politikwissenschaftler Cristóbal Kaltwasser sprach über seine Forschung, tastete sich gedanklich vor in die Zusammenhänge zwischen sozialem Zusammenhalt und Populismus und machte dabei Lust auf mehr. Einer seiner Gedanken war, dass Defizite im sozialen Zusammenhalt – sowohl in materieller als auch in kultureller Hinsicht – für den Aufstieg des Populismus verantwortlich seien. Auch Lea Kulhar stellte ihre Ideen zur Diskussion – sie ist Philosophin mit detaillierten Wissen zu Karl Marx und seinem Werk. Sie erklärte, dass sie sozialen Zusammenhalt in den kommenden Wochen aus einer marxistischen Perspektive betrachten werde, besonders im Hinblick auf dessen Konzept von „Gemeinwesen“. Wir hatten die Gelegenheit mehr über Marxismus zu lernen, als eine kleine Gruppe von uns die faszinierende Ausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus“ im Deutschen Historischen Museum besuchte.

Am Donnerstag verließen wir unsere Arbeitsumgebung und besuchten das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, um mehr über dessen Programme zu erfahren. Wir sprachen mit Professor Swen Hutter, dem stellvertretenden Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung, und dessen Kolleg*innen über die verschiedenen Facetten von politischen Konflikten und die Transformation der Zivilgesellschaft vor dem Hintergrund vergangener und aktueller Protestbewegungen weltweit. Wir führten lebendige Diskussionen und unsere Gesprächspartner*innen stimmten unseren Eingangsüberlegungen zu, dass nämlich ein gemeinsames Verständnis von sozialem Zusammenhalt zu finden eine Herausforderung, wenn nicht gar unmöglich sei.

Aber in der Woche ging es nicht nur um Arbeit. An einem sehr heißen späten Sommernachmittag erkundeten einige von uns die Straßen Kreuzbergs mit einem örtlichen Guide, um etwas über die Geschichte des Stadtteils zu lernen. Dabei fand ich wiederum meine eingangs geschilderte Beobachtung bestätigt: Wir sind zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um uns auf die Aspekte zu konzentrieren, die uns in unserer Menschlichkeit vereinen anstatt zu spalten. Dazu passt die Erkenntnis eines afrikanischen Sprichworts: „Der Mensch ist nur Mensch durch die anderen“ (ubuntu ngumuntu ngabantu).

Christa Rautenbach war Staatsanwältin und ist derzeit Rechtswissenschaftlerin mit den Abschlüssen B Iuris (cum laude), LLB (cum laude), LLM und LLD. Sie ist ehrenamtliche Schatzmeisterin der Society of Law Teachers of South Africa, Beiratsmitglied der Commission on Legal Pluralism und des African-German Network of Excellence in Science, General Secretary bei Juris Diversitas und ehemalige Vertrauenswissenschaftlerin der Alexander von Humboldt-Stiftung. Ihre Interessensgebiete sind u.a. Rechtspluralismus, Gewohnheitsrecht, kulturelle Diversität, Rechtsvergleichung und Erbrecht. Sie ist Herausgeberin des Potchefstroom Electronic Law Journal und Vorsitzende des Projekts 144 (Single Marriage Statute) der South African Law Reform Commission. Sie war Fellow am Käte Hamburger Kolleg “Recht als Kultur” in Bonn.

Woche IV / 29. Juli 2022

Gespräch im Co-Working Space: Ronen Steinke und Mala Pandurang
Mitglieder des Humboldt Residency-Programms zu Besuch bei der Leopoldina in Halle
Leopoldina - Podiumsdiskussion zum Thema „Thinking Social Cohesion Locally: Community Responses to Right-Wing Extremism“
Eröffnung der Podiumsdiskussion zum Thema Rechtsextremismus: Dr. Rainer Godel, Leopoldina
Leopoldina - Podiumsdiskussion zum Thema „Thinking Social Cohesion Locally: Community Responses to Right-Wing Extremism“
Begrüßung zur Podiumsdiskussion über Rechtsextremismus: Dr. Karamba Diaby, Mitglied des Parlaments
Leopoldina - Podiumsdiskussion zum Thema „Thinking Social Cohesion Locally: Community Responses to Right-Wing Extremism“
Teilnehmer der Podiumsdiskussion zum Thema Rechtsextremismus
Leopoldina - Podiumsdiskussion zum Thema „Thinking Social Cohesion Locally: Community Responses to Right-Wing Extremism“
Panellisten*innen Pasha Dashtgard und Julia Elad-Strenger und Esther Smykalla, Int. Office, Martin-Luther-Universität Halle
Leopoldina - Podiumsdiskussion zum Thema „Thinking Social Cohesion Locally: Community Responses to Right-Wing Extremism“
Panellist Pasha Dashtgard (Humboldt Residency-Programm)
Leopoldina - Podiumsdiskussion zum Thema „Thinking Social Cohesion Locally: Community Responses to Right-Wing Extremism“
Diskussion mit dem Publikum, Amina Atiq (Humboldt Residency-Programm)
Journalist und Autor Ronen Steinke (c Markus Schreiber)
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion zum Thema Rechtsextremismus: Prof. Dr. Reinhold Sackmann (Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle), Pasha Dashtgard und Dr. Julia Elad-Strenger (Humboldt Residency-Programm), Esther Smykalla (Akademisches Auslandsamt, Martin-Luther-Universität Halle), Dr. Judith Marquardt (Beigeordnete für Kultur und Sport, Stadt Halle), Igor Matviyets (AG Migration und Vielfalt, Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e.V.) und Moderator Marcus Hoffmann (Programmdirektor, Alexander von Humboldt-Stiftung)

Ronen Steinke, Journalist und Autor

Die ostdeutsche Stadt Halle ist nicht nur Sitz der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die in einer Villa auf einem Hügel angesiedelt ist. Die Stadt ist auch Schauplatz eines rechtsextremistischen Terroranschlags, der vor knapp drei Jahren eine Schockwelle durch Deutschland und die Welt gehen ließ. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein 27 Jahre alter Neonazi, bewaffnet mit mehreren Feuerwaffen, in die Synagoge der Stadt einzudringen. Dort hatten sich mehr als 50 Menschen versammelt, um den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu begehen. Der Angriff, dem der wenige Monate zuvor stattgefundene Anschlag in Christchurch, Neuseeland, als Vorbild diente, scheiterte. Dem Täter gelang es nicht in das Gebäude einzudringen. Stattdessen erschoss er eine Einwohnerin, die zufällig auf der Straße vorbeiging, während er seine Taten live für ein Internet-Publikum streamte. Anschließend tötete er einen Kunden in einem Döner-Imbiss, bevor er von der Polizei gestoppt werden konnte.

Die Stadt Halle war also ein bedeutsamer Ort für die Humboldt Residency-Kohorte, um ihre Diskussionen zum Thema sozialer Zusammenhalt fortzuführen. Bei einer öffentlichen Debatte in der Leopoldina-Villa tauschten sich die Kohorten-Mitglieder Dr. Julia Elad-Strenger (Bar-Ilan University, Israel) and Dr. Pasha Dashtgard (American University, USA) mit lokalen Politiker*innen und Forschenden aus und setzten sich dabei mit einer fundamentalen Frage auseinander, die bei vordergründigen Anstrengungen Extremismus zu verurteilen oft vernachlässigt wird: Was sind eigentlich die – oft recht nachvollziehbaren – psychologischen Mechanismen, die Menschen dazu bringen, sich in Gruppenhass hineinzusteigern? Julia betonte: „Anderen die Legitimität abzusprechen hat eine Funktion für Gruppen.“ Es verstärke das Gefühl, dass die eigene Gruppe sich in positiver Weise von anderen abhebt. Julia mahnte zur Vorsicht gegenüber Versuchen von Regierungseinrichtungen, diejenigen zu stigmatisieren, die so denken. Menschen abzuwerten, weil sie als radikal wahrgenommen werden, könne nach hinten losgehen. „Es führt sie tiefer in die Radikalisierung.“

In ähnlicher Weise sprach sich Pasha für eine weniger konfrontative Annäherung an radikalisierte Gruppen aus. „Wenn man Menschen versucht im Hinblick auf ihre Ideologie unter Druck zu setzen, neigen sie dazu sich zurückzuziehen und ihre Position zu verhärten.“ Der auf Strafverfolgung ausgerichtete Ansatz führender US-Behörden sei in einigen Fällen kontraproduktiv, da er beispielsweise muslimische Gemeinschaften stigmatisiere und damit womöglich neue psychische Bedürfnisse schaffe nach ebenjenen Hass-Narrativen, die von Radikalen verbreitet werden. Stattdessen habe sich eine Strategie als wirksamer erwiesen, die von Pasha als psychologische „Inokulation“ beschrieben wurde. Mit dieser Methode wird Resilienz im Voraus gestärkt. Pasha betonte die Bedeutsamkeit – und Macht – von Prävention und erklärte, dies bedeute die entsprechenden Zielgruppen vorzuwarnen, indem man ihnen beispielsweise sage: Bestimmte Leute werden versuchen dich über Impfungen zu belügen… Die Debatte und die folgenden Fragen aus dem Publikum veranschaulichten die praktischen und manchmal ideologischen Konflikte, denen keine ernsthafte Bemühung zum Schutz vulnerabler Gruppen vor Hassverbrechen entgehen kann.

Ronen Steinke ist politischer Redakteur bei Deutschlands führender Tageszeitung, der Süddeutschen Zeitung (SZ). Dort verbringt er seine Tage damit, die Arbeit von Politiker*innen zu kommentieren, vor allem im Bereich von Bürgerrechten und Terrorismusbekämpfung. Nachts schreibt er Bücher, die, zu seiner Freude, auf den Bestsellerlisten gelandet sind und in den vergangenen Jahren eine Reihe politischer Debatten in Deutschland angestoßen haben. In den Büchern geht es vor allem um deutsche Geschichte, Antisemitismus und Strafrecht. Ronen hat Universitäten in Deutschland und Japan besucht und Abschlüsse in Jura und Kriminologie erlangt. Er zog im Jahr 2017 nach Berlin und findet es immer noch schön dort.

Woche V / 05. August 2022

Workshop mit More in Common zu Strategien, um Forschung in die Gesellschaft zu bringen
Präsentation: Autorin und Journalistin Angela Saini über "race discourses" in der Wissenschaftsgeschichte und -praxis
Präsentation: Wissenschaftlerin Mala Pandurang über die Vermittlung von Vielfalt und Pluralismus im Klassenraum
Verabredungen zum Mittagessen: Mala Pandurang und Meili Criezis beim gemeinsamen Mittagessen im PulsRaum
Unterhaltungen: Richard Mole und Pasha Dashtgard diskutieren zwischen Präsentationen und Workshops im Garten des Co-Working-Raums
Humboldt Residency-Podcast: Cynthia Miller-Idriss, Angela Saini, Pasha Dashtgard und Alexander Stagnell nehmen eine Episode zum Thema sozialer Zusammenhalt auf

Mala Pandurang ist Leiterin des Dr. BMN College, Mumbai, und Vertrauenswissenschaftlerin der Humboldt-Stiftung in Indien.

Am Sonntag, dem 31. Juli – einem heißen Berliner Sommernachmittag – machten Pasha, Richard, Meili und ich uns auf den Weg zum Mauerpark. Wir wollten ein Gefühl dafür gewinnen, wie eine Veranstaltung, bei der die Öffentlichkeit miteinbezogen werden soll, an diesem historisch aufgeladenen Ort verlaufen könnte. Mein Mann Pandurang, Pashas Frau Sara und ihre kleine Tochter Laila stießen zu uns und trugen noch weiter zu dem Gemeinschaftsgefühl bei, das sich im Verlauf des Humboldt Residency-Programms entwickelt hatte. Wir gingen über den Flohmarkt, auf dem ein lebendiges Durcheinander von Berliner*innen und Tourist*innen herrschte, und uns wurde klar, dass es eine Herausforderung sein würde, in einer solch entspannten Atmosphäre Besucher*innen dieses Ortes in ein Gespräch über Aspekte des sozialen Zusammenhalts zu verwickeln. Wir sind aber gleichermaßen motiviert, eine Strategie für dieses Projekt zu entwickeln.

Der Höhepunkt der Woche war der Workshop am Dienstag, dem 2. August, mit der NGO More in Common. Der Name der Organisation weckte sofort mein Interesse, weil er einen Bezug zu aktuellen Debatten birgt: Was bringt Menschen zusammen und wie verhält sich das zu dem, was sie trennt? Inga und Jérémie unterhielten sich 90 Minuten lang mit uns darüber, wie Forschung in Praxis überführt werden kann in einer Sprache, die bei der Zivilgesellschaft ankommt. Sie versorgten uns mit innovativem Material, das in Zeiten von Trennung und Polarisierung dazu dient, Gemeinschaft zu stärken und Mut zu gemeinsamem Handeln macht.

Die Präsentationen von Kohorten-Mitgliedern in dieser Woche boten weiterhin interdisziplinäre Ansätze zum Konzept sozialen Zusammenhalts aus Perspektiven, die sehr vielfältig sind, sowohl im Hinblick auf die spezifischen Kontexte wie auch auf geopolitische und kulturelle Blickwinkel. Cynthia Miller-Idriss lud die Gruppe ein, Kritik zu üben an einem Arbeitspapier, das die kontroverse Debatte über die Durchsetzungsfähigkeit von sozialem Zusammenhalt analysierte. Pasha Dashtgard gab Einblicke in Prozesse der Intervention, wie sie am Polarization and Extremism Research Innovation Lab an der American University, Washington D.C., praktiziert werden. Angela Saini präsentierte ihre Arbeit über racial discourses in der Wissenschaftsgeschichte und -praxis und zeigte uns, wie Vorstellungen von Rasse in verschiedenen Bereichen des Lebens Mechanismen der Ausgrenzung geformt haben.

Wir lernen uns weiter kennen – während wir ein schnelles Mittagessen einnehmen, uns an der Kaffeemaschine treffen, zusammen in der U-Bahn pendeln oder auf dem Weg zum Apartment Lebensmittel kaufen. Das sind Freundschaften, die sich weiterentwickeln werden, auch über die offizielle Residenz in Berlin hinaus.

Mala Pandurang ist Direktorin des Dr. BMN College, Mumbai. Sie war Forschungsstipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Otto-von-Guericke Universität, Magdeburg. Zurzeit ist sie Vertrauenswissenschaftlerin der Stiftung in Indien. Neben einer Fulbright-Gastprofessur an der University of Texas, Austin, erhielt sie ein Forschungsstipendium des Charles Wallace Trust, Großbritannien, umfangreiche Forschungsgelder der University Grants Commission (Neu-Delhi) sowie ein Dr. Tikekar Research Fellowship und ein Inlaks Fellowship in Social Sciences jeweils von von der Asiatic Society of Mumbai. Sie ist Herausgeberin der Reihe Postcolonial Lives und Mitherausgeberin des Journal of South Asian Diaspora. Mala Pandurang hat Literatur- und Kulturwissenschaft studiert.

Woche VI / 12. August 2022

Lea Kuhar at the co-working space "PulsRaum" in Berlin
Lea Kuhar im Co-Working Space PulsRaum
Chat between Lea Kuhar and Nikola Nikola Karasová
Gespräch zwischen Lea Kuhar und Nikola Karasová
Research presentation: Julia Elad-Strenger on group identities in Israel
Forschungspräsentation: Julia Elad-Strenger über Gruppenidentitäten in Israel
Research presentation: Richard Mole on nationalism and homophobia
Forschungspräsentation: Richard Mole über Nationalismus und Homophobie
Residency cohort visits the Berlin-Hohenschönhausen Memorial
Residency-Kohorte besucht die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.

Lea Kuhar, Philosophin

In der sechsten Woche des Residency-Programms haben die Kohorten-Mitglieder weiterhin Präsentationen über ihre Forschung und künstlerische Praxis gehalten. Vier von ihnen haben ihre früheren und aktuellen Projekten präsentiert. Christa Rautenbach sprach über die Rolle des Rechts beim Aufbau des südafrikanischen Staates, besonders während der Apartheid. Sie warf die Frage auf, ob das gleiche Recht, welches das alte System ermöglichte, bei der Gestaltung eines heutigen demokratischen Staates angewendet werden könne. Amina Atiq stellte uns einige ihrer Projekte vor, in denen sie sich in verschiedenen Kunstformen aktiv mit der Öffentlichkeit auseinandersetzt. Ihre Arbeit erfasst ein breites Spektrum an Themen, darunter die ungehörten Stimmen der jemenitischen Gemeinschaft, verschiedene Arten nationale Grenzen zu überwinden und die Kraft von Storytelling im Hinblick auf Migration und die Bekämpfung von Rassismus und Islamophobie. Julia Elad-Strenger sprach über Brüche in der zeitgenössischen israelischen Gesellschaft. Sie präsentierte einige Daten aus ihrer laufenden Studie über verschiedene Arten des Konflikts und diskutierte die Möglichkeit sozialen Zusammenhalts in der religiös, ethnisch und politisch gespaltenen israelischen Gesellschaft. Richard Mole nahm uns mit auf eine Reise durch seine akademische Biographie. Diese begann mit Studien zum Nationalismus und hat sich kontinuierlich in Hinblick auf Genderaspekte erweitert. Heute befasst er sich mit Zusammenhängen zwischen Identität und Macht. Sein Vortrag stellte eine Fallstudie zu LGBT+-Rechten in osteuropäischen Ländern in den Mittelpunkt sowie die Herausforderungen, mit denen Aktivist*innen in rechtskonservativen Staaten wie Polen konfrontiert sind.

Der Mittwoch war der geschäftigste Tag der Woche. Nach den Forschungsberichten am Vormittag versammelten sich einige Mitglieder der Kohorte, um den letzten Teil der Podcast-Serie aufzunehmen. In dieser Folge befassten wir uns mit der Frage: „Wie können Kunst und Kultur uns helfen eine wahrhaft verbundene Gesellschaft zu denken?“ Später am Nachmittag nahmen wir an einer geführten Tour durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen teil, die an das berüchtigtste politische Gefängnis der DDR erinnert.

Während der Woche schlossen einige Kohorten-Mitglieder die Vorbereitungen für das Projekt Residency in the Park ab, das am 16. August im Treptower Park stattfinden soll. Es ist ein Versuch, mit einer breiten Öffentlichkeit in Austausch zu treten und Einblick in die Debatten und Meinungen der Berliner*innen zu gewinnen. Wir wollen die Besucher*innen des Parks dazu einladen, sich mit zwei Fragen zu beschäftigen: „Was trennt Menschen?“ und „Was bringt Menschen zusammen?“. Die Veranstaltung ist die ideale Möglichkeit für jede*n, unsere Mitglieder persönlich kennenzulernen und mit uns zu diskutieren.

Ich hoffe euch alle im Treptower Park (Rosengarten, nahe dem Hafen) am Dienstag um 17 Uhr zu treffen.

Lea Kuhar ist Philosophin. Zwischen 2016 und 2020 arbeitete sie als Nachwuchswissenschaftlerin am Institute of Philosophy ZRC SAZU in Ljubljana. Während dieser Zeit erhielt sie ein DAAD-Stipendium, um einen Teil ihrer Forschung an der Universität der Künste in Berlin durchzuführen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Marximus, Epistemologie und zeitgenössische politische Philosophie. Im Jahr 2020 verteidigte sie ihre Dissertation an der Postgraduate School ZRC SAZU zum Thema von Objekten in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie. Lea Kuhar ist ehemaliges Mitglied des Programmkomitees des Institute for Labour Studies, Herausgeberin von wissenschaftlichen Monographien und Autorin wissenschaftlicher Artikel in nationalen und internationalen Zeitschriften. Derzeit arbeitet sie als unabhängige Forscherin.

Woche VII / 19. August 2022

Richard Mole und sein Hund Django
Richard Mole und sein Hund Django
Networking-Veranstaltung mit Mitgliedern der Berlin University Alliance
Networking-Veranstaltung mit Mitgliedern der Berlin University Alliance
Amina Atiq und Meili K. Criezis
Amina Atiq und Meili K. Criezis
Eindrücke von der Netzwerkveranstaltung mit Mitgliedern der Berlin University Alliance
Eindrücke von der Networking-Veranstaltung mit Mitgliedern der Berlin University Alliance
Netzwerkveranstaltung mit Mitgliedern der Berliner Hochschulallianz
"Grand Challenge #SocialCohesion": Networking-Veranstaltung mit Mitgliedern der Berlin University Alliance
Einbindung der Öffentlichkeit in die Frage des sozialen Zusammenhalts: "Was bringt die Menschen zusammen?" und "Was hält die Menschen auseinander?
Einbindung der Öffentlichkeit zum Thema "Sozialer Zusammenhalt": "Was bringt Menschen zusammen?" und "Was trennt Menschen?"
Residenz im Park: Einbindung der Öffentlichkeit in die Frage des sozialen Zusammenhalts
Residency im Park: Die Öffentlichkeit zum Thema "Sozialer Zusammenhalt" einbinden
Diskussion mit Berlinerinnen und Berlinern im Treptower Park: "Was bringt Menschen zusammen?" und "Was hält Menschen auseinander?
Diskussionen mit Berliner*innen im Treptower Park: "Was bringt Menschen zusammen?" und "Was trennt Menschen?"

Richard Mole, Politiksoziologe

Obwohl sich die Berliner Residency allmählich dem Ende nähert und wir uns von einer weiteren Teilnehmerin verabschiedet haben (Tschüss, Mala!), war die siebte Woche des Programms reich gefüllt mit Forschungspräsentationen, öffentlichen Aktivitäten, Networking und nicht zuletzt Geselligkeit. Die Woche begann mit den letzten beiden Präsentationen: Nikola ließ uns an ihrer Forschung über Menschen teilhaben, die in den sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas Asyl suchten. Sie problematisierte dabei den weit verbreiteten Glauben, dass der kommunistische Block Flüchtlinge ausschließlich hervorgebracht habe. In mehrerer Hinsicht sei die Integrationspolitik kommunistischer Staaten im Hinblick auf die ethnisch diversen Geflüchteten progressiver gewesen als der assimilationistische Ansatz, den viele westliche Länder zu jener Zeit verfolgten: Neuankömmlinge in der Tschechoslowakei beispielsweise wurden ermutigt die kulturelle und sprachliche Identität ihrer Heimatländer beizubehalten. Malika erklärte die Ähnlichkeiten und Unterschiede von zwei verschiedenen extremistischen Gruppen: weißen Rassisten und Unterstützern des ISIS (Islamischer Staat in Irak und in Syrien). Auf die Frage, nach welchen Kriterien eine Gruppe weißer Extremist*innen ihre Mitglieder auswählen würde, gelang es den Residency-Teilnehmer*innen erstaunlich gut sich in deren Rolle zu versetzen. Als Gender-Forscher fand ich es besonders interessant, dass die beiden unterschiedlichen Gruppen sehr ähnliche Ansichten über die Rolle von Frauen in ihren jeweiligen Idealgesellschaften hatten.

Am Dienstagnachmittag begaben wir uns alle zum Treptower Park, um eine neue Art der Öffentlichkeitsbeteiligung zum Thema „Sozialer Zusammenhalt“ zu erproben. Ausgestattet mit zwei Schildern, auf denen stand: „Was bringt Menschen zusammen?“ und „Was trennt Menschen?“ näherten wir uns Berliner*innen, die sich, nichts Böses ahnend, an der Nachmittagssonne erfreuten, und baten sie um Antworten. Fast alle machten mit und wir haben eine Menge sehr interessanter Aussagen erhalten. Politik und Religion waren vielleicht die häufigsten Antworten darauf, was Menschen trennt. Andere interessante Antworten waren „Kommunikationsprobleme“ (von einem italienischen Paar, das hier im Urlaub war – ich hoffe, sie richtig verstanden zu haben) und „sich um Mädchen streiten“ (von einer Gruppe fußballspielender Teenager-Jungen). Als wichtigste Faktoren, die Menschen zusammenbringen, wurden Liebe, Kultur in all ihren Formen sowie Essen und Trinken genannt.

Am nächsten Tag besuchten wir die Freie Universität, um die Projektleiter*innen und Postdocs der Grand Challenge Initiative Social Cohesion zu treffen. Wir teilten uns in kleine Gruppen auf, um unser Fachwissen zu teilen und verschiedene Aspekte sozialen Zusammenhalts zu diskutieren, darunter die Rolle von Sprache und Emotionen sowie von Kunst und Kultur. Als Belohnung für unsere intellektuellen Netzwerkaktivitäten genossen wir Tee und Kuchen im Garten.

Unter Berücksichtigung der Aussagen im Treptower Park über die Bedeutung von Essen und Trinken für den Zusammenhalt von Menschen verbrachten wir den Donnerstagabend in einem Biergarten im Wedding und erfreuten uns an der Vielfalt lokalen Tranks und an Speisen, welche die Teilnehmer*innen selbst zubereitet hatten. Ein spezielles Lob an Alexanders brasilianische „Beijinhos“ und Christas südafrikanische Fleischbällchen, für die mein Schnauzer Django eine besondere Affinität hatte. 

Richard C. M. Mole ist Politiksoziologe der UCL School of Slavonic and East European Studies (SSEES) in London. Er war in den Jahren 2011/12 und 2016 Humboldt-Forschungsstipendiat in Berlin. Ein Artikel, den er in dieser Zeit verfasste, gewann einen Preis der British Association for Slavonic and East European Studies im Jahr 2020.

Woche VIII / 26. August 2022

Nikola Karasová, Research-Fellow am Masaryk-Institut und Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften
Residency Kohorte besucht das House of One
Die Residency-Kohorte besucht das House of One, eine Berliner Initiative, die ein gemeinsames Gotteshaus baut, das eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee unter einem Dach vereint.
Informelles Treffen der Kohorte im Eschenbräu Wedding
Informelles Treffen der Residency-Kohorte im Coworking-Bezirk Berlin-Wedding
Residency Kohorte und Polis kocht
Residency-Kohorte und Polis kocht! essen gemeinsam und diskutieren dabei verschiedene Aspekte sozialen Zusammenhalts.
Julia Elad-Strengler spricht über Gruppenzusammenhalt bei Polis kocht
Julia Elad-Strenger spricht über Gruppenzusammenhalt und kocht mit der Gruppe israelische Pasta.
Letzte Zusammenkunft der Residency Kohorte an der Spree in Berlin
Abschlusstreffen der Kohorte an der Berliner Spree (Holzmarkt)

Nikola Karasová, Research Fellow am Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences

Die letzte Woche der Residenzphase in Berlin ist vorbei. Bald werden wir nach Hause zurückkehren, zu unseren Familien und dem beruflichen Alltag, den wir für zwei Monate hinter uns gelassen haben. Das bringt uns dazu zu reflektieren, wie die gemeinsame Erfahrung und die intensiven Diskussionen uns selbst und unsere Wahrnehmung von Gesellschaften geformt haben. Welche neuen Erkenntnisse wird dieser spannende Austausch von Ideen – mit Menschen, die ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe und Lebenserfahrungen haben – für unsere Arbeit bringen? Wird die gemeinsame Zeit unsere Perspektive verändern, sogar neue kreative Wege eröffnen?

Für die meisten von uns hat sich den gesamten Sommer über viel verändert. Wir haben freiwillig unsere intellektuellen Komfortzonen verlassen, um über unser persönliches Verständnis von sozialem Zusammenhalt hinauszuwachsen. Die Arbeit mit Gleichgesinnten  förderte unser Verständnis dafür, wie wir als Gruppe und Individuen zu der breiten Debatte beitragen können: Was bringt Menschen zusammen und was trennt sie? Beispiele aus verschiedenen Zusammenhängen und Situationen halfen uns, die Gründe, Mechanismen und Folgen von sozialem Zusammenhalt und sozialer Auflösung zu verstehen, und das können wir nun in unserer eigenen Arbeit weiterentwickeln.

In dieser Woche haben wir das House of One besucht – für mich gehörte das zu den spannendsten Highlights unseres Sommerprogramms. Die Berliner Grassroot-Organisation verfolgt das Ziel, ein Gebäude zu konstruieren, das die drei monotheistischen Religionen der Welt unter einem Dach versammelt und so einen religionsübergreifenden Dialog schafft. Wir diskutierten die Vorzüge und Herausforderungen dieses einmaligen kulturellen Projekts – wie es sozialen Zusammenhalt in religiöser Hinsicht herstellt und Wege findet, Extremismus zu bekämpfen und Toleranz zu fördern. Ich war besonders beeindruckt vom architektonischen Design der künftigen Konstruktion. Indem jede Religion ihren eigenen Raum hat und zusätzlich ein zentraler Ort gemeinsame Begegnungen ermöglicht, fördert das Projekt ein Konzept friedlicher Koexistenz und gemeinsamen Austauschs von Ideen und religiösen Ansichten in einer neutralen und sicheren Umgebung.

Am Dienstag nahmen unsere Kolleginnen Julia Elad-Strenger und Christa Rautenbach an einem ähnlich spannenden Event teil: ‚Polis kocht‘ ist eine laufende Veranstaltungsreihe, die von Polis180 organisiert wird, einem Grassroot-Think Tank, der informellen Austausch mit Expert*innen und Politiker*innen bei gemeinsamem Kochen und Essen anbietet. Das Thema unserer Runde? Natürlich sozialer Zusammenhalt! Christa sprach darüber, welche Rolle das Rechtswesen bei der Integration und Repräsentation von Diversität spielt, während Julia die Motivation einzelner, in Gruppen zusammenzukommen, aus psychologischer Perspektive reflektierte. Und was stand auf der Speisekarte? Christa bereitete exzellenten südafrikanischen „Paptert“ (Porridge Pie) vor, und Julia zeigte allen, wie man israelische Pasta mit einer cremigen Joghurt-Erbsen-Sauce kocht.

Die Koch-Session war die letzte Veranstaltung auf unserem gemeinsamen Residency-Kalender. Am Donnerstag kamen wir zu einem Abschiedstreffen am Spreeufer zusammen. Wir genossen unsere letzten gemeinsamen Momente mit Kaffee und frischen Zimtbrötchen und mit lebhaften Gesprächen. Wir haben uns in den letzten zwei Monaten sehr zu schätzen gelernt, und so war der Abschied nicht leicht. Aber es liegt noch Arbeit vor uns, und wir werden uns weiterhin virtuell treffen. Und eines Tages werden wir uns hoffentlich auch wieder persönlich begegnen.

Nikola Karasová ist Research Fellow im ERC project “Unlikely refuge? Refugees and Citizens in East-Central Europe in the 20th century” am Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences. Sie befasst sich mit Flüchtenden in der Tschechoslowakei des Kalten Krieges mit Fokus auf der Sozialgeschichte von Flucht, Humanitarismus und Staatsbürger*innenschaft. Sie hat 2021 ihren PhD an der Karls-Universität (Prag, Tschechische Republik) und der Aristoteles-Universität (Thessaloniki, Griechenland) gemacht mit Schwerpunkt auf politischem Extremismus, Populismus und Verschwörungstherorien. Sie war Mitglied der COST Action Comparative Analysis of Conspiracy Theories (2016-2019) und des Projekts “Beyond Hegemonic Narratives and Myths. Troubled Pasts in the History and Memory of East-Central and South-East Europe” (2017-2019).