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Woche I / 12. August 2024
Mit lokalem Wissen klimaresilient werden
Wie gelingt ein nachhaltiges Leben im Einklang mit der Natur? Antworten auf diese Fragen finden die Teilnehmenden des Humboldt Residency-Programms 2024, Adenike Adebukola Akinsemolu und Christer de Silva, in indigenen Gemeinschaften.
„Nachhaltigkeit ist eine Lebensweise, die in den Küstenregionen Nigerias alltäglich ist“, sagt die Forscherin Adenike Adebukola Akinsemolu. „Die Frauen vor Ort sind die Hüterinnen des traditionellen Wissens. Sie sammeln Regenwasser, erhalten die Mangroven, können durch Betrachtung des Ozeans das Wetter vorhersagen.“ Bislang herrsche zu wenig Bewusstsein dafür, wie wertvoll ihre Expertise sei und dass dieses Wissen möglicherweise auch andernorts nutzbar gemacht werden könnte.
Dieses traditionelle Wissen ist jedoch bedroht. Ölkonzerne zerstören die Natur, leiten verseuchtes Wasser ins Meer und in die Flüsse. „Die Menschen bekommen neurologische Krankheiten und Krebs. Zugleich verlieren viele das Interesse an der eigenen Kultur, orientieren sich an der westlichen Welt.“ In der Folge stiegen viele auf Wegwerfprodukte um, legten ihre Traditionen ab. Und dabei spielt die Sprache eine Schlüsselrolle, wie Adenike betont. „Die Sprache ist eines der wichtigsten Mittel zur Weitergabe von Traditionen.“ Aber da die Menschen die lokale Sprache nicht mehr lernen, gehen auch die traditionellen Praktiken verloren.
Das Spannungsfeld zwischen lokaler Expertise zum Schutz von Biodiversität und wissenschaftlichen Erkenntnissen untersucht Christer de Silva in seiner Doktorarbeit. Der Wissenschaftskommunikator setzt sich für Begegnungen auf Augenhöhe ein. „Ich beschäftige mich damit, wie unterschiedliche Akteur*innen aus Forschung, Politik und lokalen Gemeinschaften konstruktiv miteinander ins Gespräch kommen können.“
Lange Zeit sei der Naturschutz von Menschen bestimmt worden, die sich als Schutzgebiete biologischer Vielfalt unberührte Wälder ohne menschliche Präsenz vorstellten. In der Folge wurden immer wieder indigene Völker und lokale Bevölkerungen zwangsumgesiedelt, um Naturschutzgebiete zu schaffen. So zerbrachen Gemeinschaften, gingen Wissen und kulturelle Vielfalt verloren. „Je mehr wir mit den Gemeinschaften vor Ort arbeiten, desto mehr verstehen wir, dass biologische Vielfalt auch anders definiert werden kann. Die Wissens- und Glaubenssysteme sowie Praktiken indigener Völker und lokaler Gemeinschaften tragen dazu bei, die Natur zu erhalten. In der Naturschutz- und Nachhaltigkeitswissenschaft versuchen wir, diese Werte und Handlungsweisen besser zu verstehen.“
Über die Forschenden
Die transdisziplinäre Forscherin Adenike Adebukola Akinsemolu unterstützt Menschen in den Küstenregionen Nigerias dabei, ihre soziale und ökonomische Zukunft zu sichern. Unter anderem dokumentiert sie lokale Expertise zu Nachhaltigkeit und Klimaresilienz. Neben ihrer Arbeit im Feld bildet die grüne Mikrobiologin am Green Institute in Ondo, Nigeria die Nachhaltigkeitstrainer*innen der Zukunft aus.
Christer de Silva ist philippinischer Forscher, Designer und Wissenschaftskommunikator. In seiner Doktorarbeit an der Australian National University nutzt er transdisziplinäre Methoden, um unterschiedliche Wissenssysteme und Kommunikationspraxen im Kontext des Schutzes von Biodiversität zu untersuchen. Konkret beschäftigt er sich mit Spannungen zwischen etablierter Wissenschaft und indigenem Wissen mit Blick auf die Frage, wie die biologische Vielfalt bewahrt werden kann.
Woche III/ 26. August 2024
Allen Menschen eine Stimme geben
In Sicherheit und Würde leben, auf Wissen zugreifen, sich einbringen: Bis heute werden diese Rechte vielen Menschen verwehrt. Dafür, dass sich das ändert, kämpfen zwei Teilnehmerinnen des Humboldt Residency-Programms aus Mauritius und Botswana. Tanya Lallmon streitet für LGBTQIA+-Rechte in den ehemaligen Kolonien und Tlamelo Makati sucht nach Wegen, ein inklusiveres Internet zu schaffen.
Zur Kolonialzeit unterdrückten europäische Besatzungsmächte lokale Kulturen. So ging nicht nur Wissen verloren, koloniale Denkmuster schrieben sich auch in die lokalen Gesetzgebungen ein. Unter anderem für LGBTQIA+ (lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell bzw. Transgender, queer, intersexuell und asexuell)-Minderheiten hat das bis heute weitreichende Konsequenzen. „Viele diskriminierende Gesetze auf dem afrikanischen Kontinent gehen auf die Kolonialzeit zurück“, erklärt die Aktivistin Tanya Lallmon. „Die ursprünglichen lokalen Traditionen dagegen akzeptierten diese Menschen und gestanden ihnen gleiche Rechte zu.“
Im heutigen Commonwealth müssten LGBTQIA+ aufgrund der Gesetzeslage nicht selten um ihr Leben fürchten. „In Uganda zum Beispiel ist es aktuell lebensgefährlich, zur LGBTQIA+-Gemeinschaft zu gehören und in Ghana wird gerade mit anti-LGBTQIA+-Slogans Wahlkampf gemacht“, erklärt Tanya Lallmon. Mit politischen Kampagnen und praktischer Hilfe setzen sich die Aktivistin und ihre Mitstreitenden für die Mitglieder von Minderheiten ein, fordern Entkriminalisierung, ein Leben in Würde, gleiche Rechte. In Mauritius, einem der liberalsten Länder auf dem afrikanischen Kontinent, führte ihre Lobbyarbeit kürzlich zu einem großen Erfolg. „2023 hat der Oberste Gerichtshof gleichgeschlechtliche Beziehungen entkriminalisiert – ein bahnbrechendes Urteil. Nun hoffen wir, dass das Urteil auch im Gesetz verankert wird.“
Dass viele Menschen um Inklusion bangen müssen, erlebt auch die Informatikerin Tlamelo Makati in ihrem Feld. Bislang würden Systeme regelmäßig auf Menschen zugeschnitten, die nicht behindert sind, aus der westlichen Welt stammen und Englisch verstehen. „Mit blinden Menschen habe ich zum Beispiel über eine angeblich barrierefreie Homepage gesprochen. Für sie war diese Homepage gar nicht verwendbar.“ In einem co-kreativen Prozess versucht die Forscherin Lösungen zu entwickeln, von denen Menschen mit Behinderung profitieren können.
Auch streitet Makati für die Einbindung diverser Perspektiven in die KI-Entwicklung. So bestimmten aktuell nur einige wenige Menschen, welche Daten genutzt werden, um KI Modelle zu trainieren – meist weiße Männer aus der westlichen Welt, die keine Behinderung haben. Die Folge: Verzerrte Inhalte, die zudem etlichen Menschen nicht zugänglich sind. „Die meisten Menschen auf der Welt sind schwarz, mehr als die Hälfte sind Frauen und ein Großteil erwirbt im Laufe des Lebens eine Behinderung. Bei Inklusion geht es also gar nicht um Minderheiten – es geht um jede und jeden.“
Über die Forschenden
Die Anwältin Nandini Tanya Lallmon setzt sich für Rechtsreformen in ehemaligen britischen Kolonien ein, wo diskriminierende Gesetze gegen LGBTQI+ Menschen oft ein Überbleibsel der Kolonialherrschaft sind. Im Rahmen ihrer Forschung an der Universität Malta entwickelt sie Methoden, um die Kluft zwischen Politik und Praxis in Bezug auf die Rechte von LGBTQIA+ in afrikanischen Inselentwicklungsländern zu überbrücken.
An der Technischen Universität Dublin forscht Tlamelo Makati dazu, wie künstliche Intelligenz für die Bedürfnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen optimiert werden kann. Die Forscherin befürwortet die Entwicklung nutzerzentrierter Informationssysteme und setzt sich dafür ein, diversere Formen des Wissens in die KI-Entwicklung einfließen zu lassen.
Woche IV/ 2. September 2024
Mit Geschichte imperiales Unrecht aufarbeiten
In fremden Territorien siedeln, Plantagenkolonien anlegen, Handelsimperien aufbauen – immer wieder versuchten Völker und Staaten, ihre Einflusssphäre auszudehnen. Oft mit Zwang und nicht selten zu Lasten der Zielregionen. Wie imperiale Bestrebungen ideologisch begründet wurden und wie die Geschichtswissenschaften zu ihrem Verständnis beitragen können, beschäftigt die Teilnehmenden des Humboldt Residency-Programms Matthew Fitzpatrick und Lkhamsuren Munkh-Erdene.
Wenn es darum geht, die eigene Vorherrschaft zu legitimieren, werden Menschen nicht selten kreativ: Angriffskriege werden so etwa mit dem Willen Gottes begründet, Ausbeutung mit dem Wert der Freiheit und Kolonialismus mit der vermeintlichen biologischen Überlegenheit weißer Menschen. In historischen Dokumenten überdauern solche Ideen die Jahrhunderte – und werden zum Teil bis heute reproduziert. Auf den Prüfstand geraten sie unter anderem durch die Arbeit historischer Forschung.
Vor der Gefahr, Quellen auf Basis ideologischer Annahmen zu analysieren, warnt Lkhamsuren Munkh-Erdene. Als Beispiel nennt er die Theorie des evolutionären Materialismus: Ihr zufolge beruht die menschliche Existenz primär auf ökonomischen Bedürfnissen. Sie nimmt an, dass die Kontrolle über Staatsmacht bei denjenigen mit den größten wirtschaftlichen Ressourcen liegt und somit die Errichtung einer kapitalistischen Ordnung alternativlos ist. Bis heute regelmäßig reproduziert sieht der Forscher diese Theorie etwa in historischen Abhandlungen zum Qing-Imperium. „Tatsächlich ging es im Qing-Imperium jedoch gar nicht um ökonomische, sondern um militärische Vorherrschaft – und der Eroberungsprozess ging nicht von Chinesen, sondern von Manchus und Mongolen aus.“
„Wenn man sich die Menschheitsgeschichte ansieht, dann scheinen wirtschaftliche Beweggründe bis zum 17., 18. Jahrhundert nicht die Grundlage für Eroberungen gewesen zu sein. Und dennoch reproduzieren heute viele Historiker*innen das Narrativ, dass es anders sei.“ Letztlich verhielten sich der evolutionäre Materialismus und weitere Theorien somit wie „Untote“: Sie seien längst widerlegt, prägten aber dennoch unser Denken. Wolle man historisches Wissen dekolonisieren, gelte es dementsprechend, es zu „entmaterialisieren“ und zu „dekapitalisieren“.
Aus Sicht von Matthew Fitzpatrick sind es seit dem 17. Jahrhundert verstärkt liberalistische Ideen, die imperialistische Vorstöße befeuern und sich dementsprechend auch in historischen Abhandlungen wiederfinden. „Verstanden wird Liberalismus hier als wirtschaftliche Freiheit von Europäern, nicht aber als Freiheit kolonisierter Menschen. Das ermutigte Kaufmänner, sich in der Welt auszubreiten, Handel zu treiben, zu siedeln und dabei Menschen aus dem globalen Süden zu kolonisieren und auszubeuten.“ Insgesamt jedoch seien Imperien im Laufe der Jahrhunderte höchst unterschiedlich strukturiert gewesen und ideologisch begründet worden. Somit sei es schwer, sie begrifflich auf einen Nenner zu bringen.
„Wenn wir uns aber ansehen, wohin im Laufe der Jahrhunderte wirtschaftliche Überschüsse geflossen sind, gibt uns das einen guten Einblick in die Mechanismen der Weltgeschichte.“ Derlei Zusammenhänge zu analysieren und kritisch zu beleuchten, könne Dekolonisationsbewegungen der Gegenwart in ihren politischen Kämpfen unterstützen. „Es ist nicht Aufgabe von Historiker*innen, diese anzuführen. Aber wir können mit unserer Arbeit dabei unterstützen, Unrecht aufzuarbeiten und Kritik an imperialen Strukturen zu üben.“
Über die Forschenden
An der Flinders University in Adelaide, Australien forscht Matthew Fitzpatrick zu deutschem Imperialismus und europäischer Geistesgeschichte. Insbesondere interessiert sich der Historiker für imperiale Projekte vor dem Hintergrund liberalistischen Gedankenguts. Zuletzt veröffentlichte er die Monographie „The Kaiser and the Colonies: Monarchy in the Age of Empire.“
Lkhamsuren Munkh-Erdene forscht an der Nationaluniversität der Mongolei zum Ursprung und Wesen des Staates. Hierbei fokussiert der Historiker und Anthropologe insbesondere auf Imperien- und Staatenbildung in der Mongolei. Zuletzt erschien von ihm die Monographie „The Nomadic Leviathan: A Critique of the Sinocentric Paradigm”.