Schwerpunkt

Auf gefährlichen Wegen

Sie fliehen vor Gewalt und Zerstörung wie andere Menschen auch. Doch Wissenschaftler sind als unabhängige Denker darüber hinaus oft besonders bedroht. Ihre Geschichten erzählen von Verfolgung und Not, aber auch von neuen Perspektiven dank der Solidarität ihrer Kollegen im Ausland.

  • vom 
  • Text: Lilo Berg
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Scholars at Risk Network
In diesem Netzwerk arbeiten über 400 Hochschulen und Forschungsinstitutionen in 39 Staaten zusammen. Das Ziel: gefährdete Forscher schützen und die wissenschaftliche Freiheit stärken. Jedes Jahr unterstützt Scholars at Risk Hunderte Forscher durch befristete Stellen an Mitgliedsinstitutionen. Außerdem berät das Netzwerk Gasteinrichtungen und bietet Vor-Ort-Hilfen für Forscher und ihre Familien an.
 

Philipp Schwartz-Initiative
Die Initiative vergibt Fördermittel an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland, die gefährdete Forscher mit einem Stipendium für 24 Monate aufnehmen. Sie wurde 2015 von der Humboldt-Stiftung mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes gegründet und wird kofinanziert von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Fritz Thyssen Stiftung, der Gerda Henkel Stiftung, der Klaus Tschira Stiftung, der Robert Bosch Stiftung und der Stiftung Mercator. Hochschulen, die eine Förderung beantragen, müssen unter anderem ein Konzept mit Hilfestellungen für gefährdete Forscher vorlegen.  

Kinderspiel zwischen Trümmern: Bild aus einem großteils zerstörten Wohngebiet in Aleppo im März 2016

Wenn er von den letzten Monaten in seiner Heimatstadt Aleppo spricht, senkt Nedal Said den Blick. Der syrische Mikrobiologe erzählt von einem wüsten Bürgerkrieg, von der langen Haftstrafe seines regimekritischen Bruders und vom Geheimdienst, der immer häufiger in seiner Universität erschien und Terror verbreitete. Damals, es war im Jahr 2013, arbeitete der Wissenschaftler teils an der Hochschule, teils im staatlichen Zentrum für Trinkwasserüberwachung. „Eines Tages rief ein Freund mit guten Kontakten zum Geheimdienst an. Als Assad-Gegner sei ich in großer Gefahr und müsse Syrien so bald wie möglich verlassen“, berichtet Said. Schnell packte er die Koffer und reiste mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern in die Türkei. Als die Ersparnisse aufgebraucht waren, verbrachte die Familie ein Jahr in einem türkischen Flüchtlingslager. Im Sommer 2015 bestieg Nedal Said – ohne seine Familie – ein kleines Boot und erreichte auf gefährlichen Wegen sein Wunschziel Deutschland.

„Ich bin wieder ein ganzer Mensch“

Heute sitzt der syrische Wissenschaftler im Helmholtz- Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Leipzig und untersucht winzige Organismen mit Mikroskopen modernster Bauart. Er spricht Deutsch – nicht perfekt, aber doch erstaunlich gut für jemanden, der die Sprache erst seit einem Jahr lernt. „Ich arbeite in der Wissenschaft, die Kollegen unterstützen mich, und meine Familie ist endlich bei mir – ich bin wieder ein ganzer Mensch“, sagt der 43-Jährige und strahlt.

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TOP 5 der Fluchtländer geflüchteter Wissenschaftler (Quelle: Scholars at risk)

Nedal Said ist einer der ersten Stipendiaten der Philipp Schwartz-Initiative, eines Förderprogramms der Humboldt-Stiftung unterstützt vom Auswärtigen Amt. Es soll deutsche Universitäten und Forschungseinrichtungen in die Lage versetzen, gefährdete ausländische Wissenschaftler für zwei Jahre bei sich aufzunehmen. Im Sommer 2016 erhielten Said und 22 weitere ausgewählte Forscher aus Syrien, der Türkei, Libyen, Pakistan und Usbekistan ihre Zusage, Anfang 2017 sollen mehr als 40 weitere Stipendiaten folgen. Sie alle können mit einem auskömmlichen Gehalt rechnen und haben Zugang zu Sprachkursen und weiteren Bildungsangeboten.

Herkunft geflüchteter Wissenschaftler (Quelle: Scholars at risk)

Im Wettbewerb um das begehrte Stipendium sind engagierte Mentoren wichtig. Einer von ihnen ist Hans- Hermann Richnow, der Leiter des Departments für Isotopenbiogeochemie am UFZ. Er verschaffte Nedal Said noch vor Beginn seines Stipendiums einen Praktikumsplatz in seinem Institut, half bei der Bewerbung und sorgte dann für die Einrichtung eines Arbeitsplatzes. „Wir haben tatsächlich einen Mikrobiologen gesucht“, berichtet Richnow. „Dass wir Herrn Said gefunden haben, war Zufall und hat damit zu tun, dass er sich von Anfang an selbst nach einer Arbeit umgesehen hat.“

Philipp Schwartz-Stipendiat Nedal Said (r.) aus Syrien und sein Gastgeber Hans-Hermann Richnow am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Leipzig

In Leipzig half die Eigeninitiative des Geflüchteten, in Berlin bewährte sich eine gewachsene Beziehung. Der Geograf Mohamed Ali Mohamed – er stammt ebenfalls aus Aleppo – war schon zwischen 2004 und 2010 Doktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach der Promotion kehrte er in seine Heimatstadt zurück und wurde Professor an der dortigen Universität. „Im Jahr 2012 begannen die Bombardements“, berichtet der Wissenschaftler in fließendem Deutsch, „und gleich bei den ersten Angriffen wurde unsere Wohnung mit allem Eigentum zerstört.“ Von da an war die fünfköpfige Familie ohne eigene Bleibe. Dazu kam die ständige Angst vor einer Einberufung zum Militär, mit der Mohamed trotz seines damaligen Alters von 40 Jahren rechnen musste. Schließlich entschloss er sich, seine Frau und die drei gemeinsamen Kinder zurückzulassen und über die grüne Grenze in die Türkei zu fliehen. Von dort aus nahm Mohamed Kontakt mit seinem Doktorvater Hilmar Schröder auf. Der sorgte dafür, dass sein akademischer Schüler Ende 2015 mit einem Arbeitsvisum ausreisen konnte.

Der syrische Geograf Mohamed Ali Mohamed (r.) mit seinem Gastgeber Hilmar Schröder an der Humboldt-Universität zu Berlin

„Als er in Berlin ankam, war Mohamed verschüchtert und ängstlich – so kannten wir ihn gar nicht“, erzählt Hilmar Schröder. Doch schon bald sei der Kollege aufgetaut. Heute führe er wieder eigene Lehrveranstaltungen durch und betreibe sein bodenkundliches Forschungsprojekt mit Förderung der Philipp Schwartz-Initiative. Derzeit versuchen Schröder und andere aus der Fakultät, Mohameds Frau und Kinder aus einem syrischen Flüchtlingslager nach Deutschland zu holen. Ein Kollege hat einen Kühlschrank spendiert, ein anderer die Kochtöpfe und wenn ein Vertrag auszuhandeln ist, hilft ihm jemand aus dem Institut. „Ich bin so dankbar für die Unterstützung, die ich hier in Deutschland bekomme“, sagt der Mann aus Aleppo, der seinerseits geflüchteten Landsleuten als Dolmetscher hilft – ehrenamtlich, versteht sich.

Schutz durch Universitäten

Es sind Geschichten von großer Gefahr und geglückter Rettung, die die Philipp Schwartz-Initiative erzählt. Die vorerst mehr als 60 Wissenschaftler, die damit gefördert werden, sind Teil des globalen, durch Krieg und Verfolgung ausgelösten Flüchtlingsstroms. Wie viele Wissenschaftler darunter sind, aus welchen Ländern und Disziplinen sie kommen und wo sie Zuflucht finden, ist nicht genau bekannt. Etwas Licht ins Dunkel bringen die Statistiken der größten Hilfsorganisation für bedrohte Forscher, des Scholars at Risk Network (SAR). In den weltweit mehr als 400 dazugehörenden Hochschulen und Forschungseinrichtungen fanden in den letzten zwei Jahren rund 340 Forscher Schutz. Dem SAR-Netzwerk gehören jetzt auch 20 Mitglieder einer neu gegründeten deutschen Sektion an, deren Geschäftsstelle die Alexander von Humboldt- Stiftung übernommen hat.

Disziplinen gefüchteter Wissenschaftler (Quelle: Scholars at risk)

Europäische Universitäten nehmen, wie die Daten von Scholars at Risk belegen, den größten Teil bedrohter Wissenschaftler auf (siehe Grafik unten). Nachdem Deutschlands Aufnahmezahlen im Jahr 2016 kräftig gewachsen sind, führt das Land nun zusammen mit den Niederlanden die europäische Statistik an. Sortiert nach Wissenschaftsdisziplinen zeigen die SAR-Zahlen, dass unter den Verfolgten zunehmend Sozial- und Geisteswissenschaftler sind (siehe Grafik oben). Bei den Herkunftsländern gefährdeter Forscher hat Syrien im Jahr 2016 Iran abgelöst und führt die traurige Statistik mit deutlichem Abstand an. Aus den Daten geht auch hervor: Immer mehr türkische Wissenschaftler sind in ihrer Heimat bedroht (siehe Grafik ganz oben).

Zielländer geflüchteter Wissenschaftler: In den Jahren 2015 und 2016 flüchteten beinahe unverändert 6 von 10 Wissenschaftler nach Europa und 4 von 10 nach Amerika. Was sich hingegen veränderte, ist die prozentuale Verteilung innerhalb Europas.(Quelle: Scholars at risk)

Eine davon ist Meral Camcı. Die Translationswissenschaftlerin aus Istanbul unterzeichnete im Januar 2016 einen Friedensappell, der sich gegen die Bombardierung von Kurdengebieten durch die türkische Regierung richtete. Seither wird sie, ebenso wie ihre etwa 2 000 Mitunterzeichner, massiv unter Druck gesetzt. Ende Februar 2016 kam die Kündigung ihrer Stelle als Professorin, später wurde sie festgenommen und nach drei Wochen wieder aus der Haft entlassen. Mithilfe ihrer Mentorin, der Germanistin Dilek Dizdar von der Universität Mainz, erhielt Meral Camcı ein Philipp Schwartz-Stipendium. Seither könnte sie in Deutschland bleiben und ihr Projekt über die Entwicklung des feministischen Diskurses in der Türkei aus sicherer Entfernung betreiben. Und doch reist Camcı zurück in die Heimat, um vor Ort zu recherchieren und die Friedensbewegung zu unterstützen. Dilek Dizdar bewundert die unerschrockene Kollegin: „Sie setzt sich mutig und selbstlos für ihre Überzeugungen ein – das ist selten geworden in der akademischen Welt.“

Fluchtursachen (Quelle: Scholars at risk)

Traum vom Frieden

Meral Camcı würde am liebsten wieder ganz in ihrer Heimat leben und arbeiten. Der syrische Geograf Mohamed Ali Mohamed will im Prinzip auch zurück: „Aber nur, wenn in meinem Land wirklich Frieden herrscht.“ Von einer friedlichen Zukunft träumt auch Nedal Said in Leipzig. Dann könnte er vielleicht in einem internationalen Unternehmen arbeiten und wissenschaftliche Mikroskope in den Nahen Osten verkaufen – allerdings von Europa aus.

Die türkische Translationswissenschaftlerin Meral Camci (l.) und ihre Gastgeberin Dilek Dizdar an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Wie auch immer die Entscheidung ausfällt: „Geflohene Wissenschaftler können unsere besten Botschafter sein“, sagt Saids Mentor Hans-Hermann Richnow. Er plädiert für eine spezialisierte Datenbank, die aufnahmewillige Institute mit bedrohten Forschern zusammenbringt, und zwar möglichst bald nach deren Einreise. „Hochqualifizierte Fachkräfte verlieren derzeit noch viel zu viel Zeit“, beklagt der Leipziger Forschungsmanager. Gerade ist er dabei, in seinem Department wieder eine Stelle für einen geflüchteten Wissenschaftler einzurichten – diesmal im Bereich Bioinformatik.

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