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Im deutschen Wissenschaftsbetrieb waren 2018 nur 1,6 Prozent der Spitzenpositionen mit Ostdeutschen besetzt – bei einem Bevölkerungsanteil von circa 19 Prozent. Keine einzige ostdeutsche Frau leitete 2018 eine Universität oder außeruniversitäre Einrichtung. Damit waren Ostdeutsche in Führungspositionen mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung stark unterrepräsentiert, wie unsere Studie Elitenmonitor ergab, in der die Repräsentation Ostdeutscher in Spitzenpositionen erforscht wird. Von einer bewussten Kolonisierung kann dabei aber nicht die Rede sein. Die letzte DDR-Regierung beschloss 1990 den Beitritt zum bestehenden westdeutschen Wissenschaftssystem der Bundesrepublik. Die Verfahren für Personalentscheidungen an Hochschulen regeln seitdem auch in Ostdeutschland die Landesparlamente. Und diese holten in den 1990ern oftmals das Know-how westdeutscher Führungskräfte in den Osten. Westdeutsche Chefs wurden zum Standard.
Anhaltende Schieflage
Markant ist jedoch, dass sich daran lange wenig änderte. Studien zeigen: Dies hat nicht zuletzt mit der Sozialisation der Führungskräfte zu tun. Diese beeinflusst stark, wie Qualitätskriterien bei Neueinstellungen interpretiert werden, was etwa als relevante Expertise betrachtet wird, wie das Auftreten einer Person oder ihre Karrierestationen bewertet werden, ob es eine Vorstellung gibt, was sie unter welchen Bedingungen leisten musste, um ihre Eignung zu erlangen. Da seit den 1990ern vorwiegend Westdeutsche in Auswahlkommissionen saßen und sitzen, dominiert auch ihr Sozialisationsprofil.
Die Politikwissenschaftlerin Professorin Dr. Astrid Lorenz hat den Lehrstuhl für das Politische System Deutschlands und Politik in Europa an der Universität Leipzig inne. Sie ist Mit-Autorin des vom Ostbeauftragten der Bundesregierung geförderten Elitenmonitors, gemeinsam mit Forschenden der Universität Jena und der Hochschule Zittau/Görlitz. Der Humboldt-Stiftung ist Lorenz als wissenschaftliche Gastgeberin verbunden.
Ostdeutsche der Altersgruppe(n), die für Spitzenposten bisher infrage kamen, vereinen im Schnitt Merkmale, die auch bestimmten westdeutschen Bevölkerungssegmenten (wie etwa Bildungsaufsteigern oder migrantischen Communities) zum Nachteil gereichen: eine andere Sozialisation, ein abweichender Habitus, geringere Einkommen und Vermögen, die die Möglichkeiten für Ortswechsel und Auslandsaufenthalte beeinflussen, weniger Unterstützung und Insiderwissen durch Bekanntschaft mit Personen, die bereits wissenschaftlich Karriere gemacht haben.
Die Schieflage hat Effekte: Befragungen zeigen, dass Ostdeutsche ihre Unterrepräsentation in vielen Sektoren deutlich wahrnehmen. Wer sie spürt, ist tendenziell unzufriedener mit der Funktionsweise der Demokratie.
Und in sozialwissenschaftlichen Studien wird das Hintergrundwissen zur ostdeutschen Teilgesellschaft und wichtigen Prozessen oftmals nicht mit einbezogen. Dies trägt zu einer selektiven Erfassung der Wirklichkeit und verzerrten, einseitigen Dateninterpretationen bei.
Wir sollten daher sensibler für Mechanismen sein, die die Chancengleichheit auf Karrierepfaden beeinträchtigen – auch, wenn sie nicht das Ergebnis einer Kolonisierung sind. Dass wir lernfähig sind, lassen die Zahlen vermuten: 2022 waren immerhin 8,1 Prozent der Toppositionen im Wissenschaftsbetrieb von Ostdeutschen besetzt, 3,2 Prozent von ostdeutschen Frauen.
Toppositionen im Wissenschaftsbetrieb | davon Ostdeutsche | davon Frauen |
---|---|---|
2022 | 8,1 % | 3,2 % |
2018 | 1,6% | - |
Hintergrund: Die deutsche Wiedervereinigung
Text: Marlene Halser
Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fällt, gilt nach über vier Jahrzehnten die ungewollte Teilung Deutschlands in zwei Staaten als aufgehoben, ausgelöst durch eine friedliche Revolution in der DDR.
Am 3. Oktober 1990 tritt die DDR offiziell der BRD bei. Es folgt die „Übernahme des politischen, ökonomischen und juristischen Systems der Bundesrepublik, ihres Bildungssystems und der Ausdehnung seiner gesamten Institutionenarchitektur ebenso wie die des Wertesystems“, wie es die ostdeutsche Schriftstellerin Jana Hensel beschreibt. Die westdeutsche Perspektive wurde zur Norm. Der Osten sollte sich anpassen. Es findet ein „Elitenaustausch“ statt, in dem ostdeutsche Biografien mehrheitlich zum Nachteil gerieren. Das gilt auch im Wissenschaftsbetrieb, wo zwei unterschiedliche Systeme mit je eigener Wissenschaftskultur zu einer Forschungslandschaft zusammenwachsen sollen.
Ausgehend von dieser Vereinnahmung entsteht ein Diskurs, der die Frage aufwirft, ob die Wiedervereinigung im Kern ein kolonialer Akt gewesen sei. „Die DDR wurde, nachdem sie durch die Wiedervereinigung zu Ostdeutschland wurde, als Verlierer der Geschichte politisch, ökonomisch, historisch, kulturell und mental aus ihrer eigenen Mitte an die Peripherie gerückt“, schreibt Hensel. Für die Soziologin Sandra Matthäus erscheint die Debatte um „innerdeutschen Kolonialismus“ produktiv, um die Mechanismen herauszuarbeiten „mit denen Minderwertigkeit produziert wird und Asymmetrien wieder und wieder reproduziert werden können“.
Kritiker*innen warnen unterdessen davor, den Kolonialismus-Begriff zu trivialisieren. Befürworter*innen halten dagegen, es gehe weniger um unzulässige Vergleiche, als vielmehr darum, postkoloniales Denken anzuwenden. Und damit zu verstehen, welche Auswirkungen das Hierarchiegefälle auf die ostdeutsche Gesellschaft hat, ebenso wie auf die Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen.