Nachgefragt

Frau Martinez Mateo, wie rassistisch ist die Philosophie?

Herausfinden, was die Welt im Innersten zusammenhält: Die Philosophie will überzeitliche Wahrheiten finden, die für alle Menschen gelten. Den Kanon prägen heute jedoch vor allem die Überlegungen einiger weniger europäischer Philosophen. Wie viel Rassismus in ihrem Denken steckt, untersucht die Philosophin Marina Martinez Mateo.

  • vom 
  • Text: Nora Lessing
Grafik mit Porträtbild von Marina Martinez Mateo
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Dr. Marina Martinez Mateo

Professorin Dr. Marina Martinez Mateo ist Juniorprofessorin für Medien- und Technikphilosophie an der Akademie der Bildenden Künste München und war 2022/2023 als Feodor Lynen-Stipendiatin an der Northwestern University, Evanston, USA.

Feodor Lynen-Forschungsstipendium
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„Im Grunde ist es letztlich nur eine kleine Anzahl europäischer Denker, die bis heute das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften beeinflussen“, sagt Martinez Mateo. „Dabei gibt es wenig Bewusstsein für die historische Einbettung ihrer Philosophien.“ Gemeint ist, dass Wissen stets in einem bestimmten Kontext entsteht und von den Herrschafts- und Gewaltverhältnissen der Zeit geprägt ist. Auch den Werken großer Philosophen liegen so etwa sexistische und rassistische Ideen zugrunde. Selbst die Philosophie der Aufklärung gerät hier in den kritischen Blick: „Kant zum Beispiel hat eine ganze Rassentheorie entwickelt und damit zum modernen Rassendenken beigetragen“, sagt Martinez Mateo, die zum Verhältnis von Philosophie und Rassismus forscht.

Wer heute mit von Kant und Co. entwickelten Theorien und Begriffen arbeitet, kann so versehentlich auch rassistische Annahmen weitertragen, erklärt Martinez Mateo. „Ich wünsche mir, dass es in der philosophiehistorischen Forschung eine stärkere Auseinandersetzung mit den eigenen Methodiken gibt, mit der Quellenauswahl und mit den Implikationen, die damit verbunden sind“, sagt sie. Zugleich, so die Forscherin, fehle uns oft der Blick auf Denker*innen, die aus anderen Regionen der Welt spannende Impulse geliefert haben. Auch durch Übersetzungen europäischer Texte in andere Kontexte hätten sich neue Fragestellungen und philosophische Traditionen entwickelt. Texte wurden reinterpretiert und politisiert. Sich diesen globalen Aspekten stärker zu öffnen, würde der Pluralisierung der philosophischen Lehre und Forschung guttun, plädiert Martinez Mateo.

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