Deutschland im Blick

Vergesst eure Schulgrammatik

Rasch mal etwas whatsappen, twittern oder liken – nicht nur im Umgang mit sozialen Medien wird manchmal ein Deutsch gesprochen, über das sich Sprachpuristen die Haare raufen. Nur die Ruhe, meint Vilmos Ágel: Den Sprachwandel sollte man nicht bekämpfen, sondern sinnvoll begleiten. Hierzu hat der ungarische Linguist eine völlig neue Grammatik entwickelt.

  • vom 
  • Interview: Lilo Berg
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Professor Dr. Vilmos Ágel (59) ist Ungar und stammt aus Budapest. Mit 14 Jahren begann er, die deutsche Sprache zu erlernen. Später studierte er Germanistik, Geografie und Portugiesisch in Budapest.

In den 1990er- Jahren kam Vilmos Ágel mit einem Humboldt-Forschungsstipendium nach Deutschland. Seit 2004 ist er Professor an der Universität Kassel. Am dortigen Institut für Germanistik leitet er seither das Fachgebiet Sprachwissenschaft/ Systemorientierte Linguistik. Im Jahr 2005 wurde Ágel mit dem Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreis der Humboldt-Stiftung ausgezeichnet.

Sein neues Buch „Grammatische Textanalyse. Textglieder, Satzglieder, Wortgruppenglieder“ erschien im März 2017 bei De Gruyter. Vilmos Ágel lebt mit seiner Familie in Kassel – zu Hause wird Ungarisch gesprochen.

Vilmos Ágel

Kosmos: Herr Professor Ágel, Ihre Muttersprache ist Ungarisch und neben Deutsch sprechen Sie noch Englisch, Französisch und Portugiesisch. Was ist charakteristisch für die deutsche Grammatik?
Vilmos Ágel: Zum Beispiel, dass es drei grammatische Geschlechter gibt – etwa „der Tisch“, „die Lampe“, „das Buch“. Aus deutscher Perspektive ist das ganz normal, aber Franzosen, die in ihrer Sprache nur zwei Varianten kennen, fremdeln damit, und das Ungarische kommt ganz ohne grammatisches Geschlecht aus. Regelrecht exotisch im internationalen Kontext ist das deutsche Reflexiv-Passiv. Eltern gebrauchen es zum Beispiel in Sätzen wie „Jetzt wird sich aber hingesetzt“ gegenüber ihren Kindern. Diese grammatische Option gibt es nur in sehr wenigen Sprachen.

Kosmos: Sie haben jüngst eine 900 Seiten starke neue deutsche Grammatik vorgelegt, an der Sie mehrere Jahre gearbeitet haben. Warum der Aufwand?
Vilmos Ágel: Weil ich mit dem Vorhandenen unzufrieden war und das schon lange Zeit. Seit mehr als 20 Jahren mache ich mir Notizen zu diesem Thema.

Kosmos: Was genau wollen Sie verändern?
Vilmos Ágel: Mir geht es um eine andere Perspektive. Nach den Regeln der Schulgrammatik betrachtet man zuerst die einzelnen Wörter, dann die Satzglieder und erst dann vollständige Sätze. Den ganzen Text nimmt man dabei meist gar nicht in den Blick. Demgegenüber schlage ich vor, Sprachwerke von oben nach unten zu analysieren, also vom ganzen Text zu den Sätzen und schließlich zu den Wortgruppen und Wörtern.

Kosmos: Welche Vorteile hat dieses Vorgehen?
Vilmos Ágel: Es entspricht unserer natürlichen Erfahrung. Sprache begegnet uns normalerweise nicht in isolierten Wörtern und Sätzen, sondern in Texten und Gesprächen. Vom ganzen Text ausgehend haben bestimmte sprachliche Strukturen eine völlig andere Bedeutung als im Licht der klassischen Grammatik. Und was dort als Normverstoß gilt, kann sich bei einer grammatischen Textanalyse als kreatives Instrument erweisen.

Humboldt Kosmos - das Magazin der Humboldt-Stiftung. Woran forschen die Humboldtianer*innen weltweit? Welche Themen aus Wissenschaft, Diplomatie und Internationalität bewegen uns? Hier gelangen Sie zu den neuesten Texten. 

Kosmos: Haben Sie ein Beispiel hierfür?
Vilmos Ágel: Nehmen wir eine Stelle aus dem Roman „Das ewige Leben“ des preisgekrönten deutschsprachigen Autors Wolf Haas: „Wer redet, bleibt. Wer schweigt, geht. Obwohl. Gegangen ist der Brenner ja schon. Nur. Wohin gegangen? Weil es gibt ein Gehen, das ist schlimmer als das schlimmste Bleiben.“ Für die Schulgrammatik ist die Verwendung der Wörter „obwohl“ und „weil“ einfach nur falsch. Denn es fehlen die Nebensätze, die gemäß der reinen Lehre auf diese Wörter folgen müssten. Doch in dem Haas-Text wären gerade die Nebensätze falsch, weil „obwohl“ und „weil“ mit Nebensatz eine ganz andere Bedeutung hätten und den Textsinn vollkommen entstellen würden: „Wer redet, bleibt. Wer schweigt, geht, obwohl der Brenner ja schon gegangen ist. Nur. Wohin gegangen, weil es ein Gehen gibt, das schlimmer ist als das schlimmste Bleiben?“ Aus der Perspektive des Textsinns betrachtet wären also „obwohl“ und „weil“ mit Nebensatz falsch, da unsinnig. Die angeblichen Normverstöße entpuppen sich hier als kraftvolles Gestaltungselement.

Kosmos: Die Schulgrammatik lehrt strikt nach Norm. Kämpft sie auf verlorenem Posten?
Vilmos Ágel: Gegen den natürlichen Sprachwandel hat sie kaum eine Chance. Die klassische Grammatik stellt sozusagen Labornormen auf, an denen sich der kreative Sprachgebrauch ständig reibt. Und wenn man genau hinschaut, sind die Normverstöße von heute sehr oft die Normen von morgen.

Kosmos: Wird also der Dativ tatsächlich dem Genitiv sein Tod sein, wie ein bekannter deutscher Buchtitel es prophezeit?
Vilmos Ágel: Der Dativ gewiss nicht, denn er hat mit dem Genitiv wenig zu tun. Sollte mit dem zitierten Buchtitel gemeint sein, dass eine Struktur wie „das Haus meines Vaters“ durch eine Struktur wie „das Haus von meinem Vater“ ersetzt werden könnte, so wäre die Präposition „von“ und nicht der Dativ dem Genitiv sein Tod. Wenn es aber doch zu einer solchen Entwicklung kommen sollte, was ich nicht glaube, muss die Grammatikschreibung sich darauf einstellen. So wie die meisten Menschen sich heute schon in bestimmten Situationen anpassen: Niemand würde zum Beispiel „wegen dieses Mistes“ sagen. Solche Veränderungen aufzuhalten, ist nicht Aufgabe der Grammatik. Sie sollte den Sprachwandel vielmehr beschreiben und versuchen, ihn zu verstehen.

Kosmos: Das klingt nach laissez faire. Warum sollten Schüler dann überhaupt noch grammatische Regeln lernen?
Vilmos Ágel: Um grammatische Regeln sollte es nur im Fremdsprachenunterricht gehen. Der Deutschunterricht bietet sich für den Erwerb grammatischer Grundbegriffe an, die man für die Sprachreflexion und für den Fremdsprachenerwerb braucht. Das sollte idealerweise anhand ganzer Texte geschehen: So erfahren die Schüler, wie gut sie mithilfe der Grammatik den Sinn von Sprachwerken erschließen können.

Kosmos: Noch empfinden viele von ihnen die Beschäftigung mit Grammatik als öde, sinnlose Angelegenheit.
Vilmos Ágel: Dabei ist sie ein wunderbares Instrument, ja ein Schlüssel, um sich in einer immer komplexeren und komplizierteren Welt besser zurechtzufinden. Dies gilt auch für den Erwerb einer literarischen Textkompetenz. Denn aus der textbasierten Analyse grammatischer Strukturen ergibt sich eine natürliche Verbindung zur wissenschaftlichen Analyse literarischer Texte.

Kosmos: Ist Ihre neue Grammatik auf die deutsche Gegenwartssprache beschränkt?
Vilmos Ágel: Man kann mit ihr auch historische Texte untersuchen und den Sprachwandel verfolgen. Dabei ergeben sich interessante Parallelen zwischen Grammatik und Weltsicht. So finden sich in Texten des frühen 18. Jahrhunderts noch auffallend viele Verben ohne Subjekt wie zum Beispiel „mir träumt“ oder „mich friert“. Sie werden aber noch im gleichen Jahrhundert zunehmend abgelöst durch Verben mit Subjektbezug, also durch „ich träume“ und „ich friere“, um beim Beispiel zu bleiben. Das entspricht dem größeren Stellenwert des verantwortlichen Subjekts in der Moderne. Dieser Prozess hat viele Jahrzehnte gedauert – grammatischer Wandel verläuft eben ausgesprochen langsam.

Kosmos: Auch heute noch? Heizen Twitter, WhatsApp und andere neue Medien die Veränderung nicht sehr an?
Vilmos Ágel: Wir haben keine Belege für einen beschleunigten Sprachwandel. Zwar tauchen sehr viele neue Anglizismen auf, aber in der Regel sind sie innerhalb kurzer Zeit auch schon wieder verschwunden. Das Wort „Job“ ist eine relativ seltene Ausnahme – es hat sich einen festen Platz im Deutschen erobert. In der Regel wird das, was sich im Deutschen bewährt, in den Wortschatz integriert und mit der Zeit nicht mehr als fremd empfunden. Man denke nur an die Unmengen von alten Kulturwörtern wie „Ziegel“, „Pflanze“ oder „Wein“, die alle aus dem Lateinischen gekommen sind. Ob jedoch Twitter und Co. den Wortschatz oder gar die Grammatik nachhaltig verändern, wird man erst in 50 Jahren sagen können.

vorheriger Artikel Unter Strom
nächster Artikel Hans-Christian Pape ist neuer Präsident