Deutschland im Blick

Post nach Deutschland

Mehr als 2000 Forschende aus aller Welt kommen jährlich als Humboldtianer*innen für wissenschaftliche Aufenthalte nach Deutschland, manche von ihnen im Laufe ihrer Karriere sogar mehrmals, wie der argentinische Physiker Alejandro Fainstein. Wie Deutschland sich in den 25 Jahren zwischen seinen beiden Aufenthalten gewandelt hat, beschreibt er in einem Brief an die Stiftung.

  • vom 
  • Text: Alejandro Fainstein
Berliner Mauer mit Graffiti, datiert 1994
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Alejandro Fainstein

Professor Dr. Alejandro Fainstein ist Professor am Instituto Balseiro, Universidad Nacional de Cuyo und forscht für die Atomic Energy Commission sowie das Scientific Research Council of Argentina, in Bariloche, Argentinien. 1993/94 war er als Humboldt-Forschungsstipendiat zu Gast am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart. 2021 kehrte er zurück für einen Forschungsaufenthalt am Paul-Drude-Institut für Festkörperelektronik in Berlin.

Humboldt-Forschungsstipendium

Von: Alejandro Fainstein
An: Alexander von Humboldt-Stiftung
Betreff: Grüße aus Argentinien!

Hallo zusammen,

nach einem dreimonatigen Forschungsaufenthalt in Berlin sind wir – meine Frau, unsere 14-jährige Tochter und ich – inzwischen mit vielen schönen Erinnerungen im Gepäck zurück zu Hause. Bevor wir wieder zum Alltag zurückkehren, möchte ich Grüße senden und für die erneute Unterstützung danken. Mein wissenschaftlicher Aufenthalt war ausgezeichnet. Aber nicht nur das. Für meine Familie und mich war es ein Erlebnis, das unseren Geist und unsere Interessen in vielerlei Hinsicht inspiriert hat.

Ein noch faszinierenderes, offeneres, gastfreundlicheres, diverseres und kulturell reicheres Land.
Alejandro Fainstein, Professor am Instituto Balseiro, Universidad Nacional de Cuyo

Ich habe den Eindruck, Deutschland ist seit meinem ersten Besuch vor mehr als 25 Jahren als frisch verheirateter Postdoc in Stuttgart zu einem noch faszinierenderen, offeneren, gastfreundlicheren, diverseren und kulturell reicheren Land geworden, in dem Demokratie und Wissenschaft zentrale Bedeutung haben. Diesen Wandel finde ich beachtlich (zum Teil liegt das natürlich auch an meiner eigenen Sichtweise und Wahrnehmung, die sich in den letzten 25 Jahren ebenfalls weiterentwickelt haben).

Frau steht vor einem Bauzaun, im Hintergrund die Berliner Mauer, datiert 1994
OST VS. WEST: In den 1990ern teilte eine imaginäre Linie das Land in zwei Hälften.

Ich weiß noch, dass mir bei meinem ersten Aufenthalt 1993/94 auffiel, wie schwer sich die Deutschen mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust getan haben. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass der Umgang auch mit den dunklen Zeiten der deutschen Vergangenheit gereift ist. In einer Ausstellung im Berliner Humboldt Forum habe ich wunderschöne Elfenbeinschnitzereien gesehen, daneben Exponate, die die Zeit des deutschen Kolonialismus in Afrika und Elefantenschlachtungen thematisieren. Am Ende werden die Besucher*innen gefragt: Sollte solche Kunst ausgestellt werden? Wie ließe sich am besten verhindern, dass sich solche Gräueltaten wiederholen? Ähnlich beeindruckend ist die Ausstellung des Jüdischen Museums, in der deutschen Jüdinnen und Juden der heutigen Zeit eine Stimme gegeben wird und zugleich Wagner und seine Musik aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert werden. Ich glaube, Scham und Schuldgefühle sind wichtig, doch letztlich führt das offene Hinterfragen derart komplexer Themen erst zu Veränderungen. Es ergreift einen und kann so mitunter Wunden heilen.

In den 1990er-Jahren kam mir die deutsche Gesellschaft homogener vor, in Teilen geprägt von Angst vor Zuwanderung. Als Ausländer*in fühlte man sich ausgegrenzt. Jetzt kamen wir in ein Land, das nicht nur offen ist, sondern Diversität begrüßt und davon profitiert. Vielfalt begegnet einem überall – und niemanden kümmert es, so war zumindest unser Eindruck. Ich glaube, die gewachsene europäische Gemeinschaft hat maßgeblich zu diesem Wandel beigetragen. Doch auch Deutschlands Unterstützung für Menschen in Not aus Kriegsländern, die in der Praxis sicherlich herausfordernd ist, verdient höchste Anerkennung.

1993 war die Berliner Mauer noch weitgehend intakt, ebenso die imaginäre Linie, die das Land in zwei Hälften geteilt hat. Die Gegensätze zwischen den Städten in Ost und West, der Ausdruck in den Gesichtern der Menschen auf den Straßen spiegelten diese Kluft wider. Jetzt hatte ich den Eindruck, dass die Deutschen die immense Herausforderung der Wiedervereinigung auf ganz erstaunliche Weise bewältigt haben. Die imaginäre Linie ist verblasst. Die erste deutsche Bundeskanzlerin ist tatsächlich im Osten aufgewachsen! Während sich Länder auflösen, Gesellschaften in Extreme zerfallen, scheinen die Deutschen in der Lage gewesen zu sein, die Differenzen zu überwinden, sich zu vereinen, zusammenzuschließen.

Eine Frau schiebt ein Fahrrad mit Kinderanhänger über die Straße
2021: Wie die Deutschen Kinder wahrnehmen hat sich in den letzten 25 Jahren gewandelt.
Plakat mit der Aufschrift Mehr Zeit für Kinder, datiert 1994
In den 1990ern musste mit Plakaten geworben werden, Zeit mit den Kindern zu verbringen.

Eine weitere Veränderung, die wir beobachten konnten, ist, wie die Deutschen Kinder wahrnehmen. Das lässt nicht zuletzt auf die verbesserte Stellung der Frau in der deutschen Gesellschaft schließen. In den 1990er-Jahren gab es kaum Kindergärten – man erklärte uns, dass Mütter eine Arbeitspause einlegen, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Babys waren in Bars oder Restaurants nicht willkommen, Hunde hingegen schon. Auch bei kritischen Fragen rund um den Klimawandel, Nachhaltigkeit und den Umgang mit den schwindenden Ressourcen unseres Planeten hat sich viel getan. Diese Themen sind inzwischen in vielerlei Hinsicht präsent, ob durch die zunehmende Zahl von Bioläden, die Wochenmärkte oder die Fridays for Future-Demonstrationen am Brandenburger Tor.

Solchen Wandel sahen wir, wann immer wir durch die Straßen gingen (wobei sich auch die von einem Jahr zum nächsten zu ändern scheinen). Und da wir während der COVID-Pandemie in Deutschland waren, sollte ich noch erwähnen, dass dies für uns kein großes Problem darstellte. Die Deutschen sind sehr praktisch veranlagt. Und so konnte man sein Leben fast normal weiterführen. Im Vergleich zu Argentinien fand ich die Einschränkungen weniger streng – wobei der entscheidende Unterschied vermutlich ist, dass die Deutschen sich eher an die Regeln halten.

Die Veränderungen, die ich in Deutschland sehen konnte, machen mir Hoffnung.
Alejandro Fainstein, Professor am Instituto Balseiro, Universidad Nacional de Cuyo

Ich weiß, nichts ist perfekt. Aber die Veränderungen, die ich in Deutschland sehen konnte, machen mir Hoffnung für die Zukunft. Trotz aller bestürzenden Entwicklungen in der Welt, wie dem Krieg in der Ukraine. Ich habe vor Jahren „Der Zauberberg“ von Thomas Mann gelesen, der von 1907 bis 1914 handelt. Ich erinnere mich, dass die Hauptfigur Hans Castorp erzählt, wie mental belastend es sei, weit weg von zu Hause auf Reisen zu sein, weil die Seele dem Körper in viel langsamerem Tempo folgt. Heute steigen wir in ein Flugzeug und gelangen innerhalb von 20 Stunden aus dem eisigen Berlin nach Bariloche in Patagonien mit sommerlichen 30 °C. Von Deutschland nach Argentinien. Von Europa nach Lateinamerika. Wir werden durch den Raum transportiert, und in vielerlei Hinsicht auch durch die Zeit. An den Flughäfen streifen wir Menschen und Leben, die über die ganze Welt verteilt sind. Es ist einfach unmöglich, das ganze Ausmaß dessen zu begreifen. Und gleichzeitig ist es wunderschön.

Alejandro Fainstein mit Frau und Tochter beim Essen

Die Zusammenarbeit auf Distanz wird von den virtuellen Möglichkeiten, die während der Pandemie entwickelt wurden, in Zukunft sicherlich profitieren. Doch bei wissenschaftlichem und kulturellem Austausch geht es um Menschen. Und langfristige Interaktionen haben auch mit Freundschaft und Verständnis zu tun. Wir Menschen sind eine soziale Spezies, die Kontakt zu anderen braucht. Nicht nur über einen Bildschirm, sondern auch im Labor, am Tisch, beim Wandern oder nach einer Konferenz in einer Bar. Wir können nicht steuern, wann, wie und wo bahnbrechende Ideen entstehen. Die Humboldt-Stiftung leistet unschätzbare Arbeit, um diese Magie möglich zu machen.

Viele Grüße
Alex

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