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„Wir brauchen ein CERN für KI in Europa“

Eine mensch-zentrierte KI kann zum großen Standortvorteil für Deutschland und Europa werden, sagt der Alexander von Humboldt-Professor für KI Holger Hoos. Ein Gespräch über den Kampf um Talente mit der Industrie, nachhaltige KI und darüber, was Europa von Kanada lernen kann.

  • vom 
  • Interview: Georg Scholl
Foto von Holger Hoos im Interview
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

HOLGER HOOS

Professor Dr. Holger Hoos ist Informatiker und seit 2022 Humboldt-Professor für KI an der RWTH Aachen. Zuvor forschte er in Kanada und in den Niederlanden.

Humboldt-Professor Holger Hoos

KOSMOS: Herr Professor Hoos, Sie werben für eine mensch-zentrierte KI. Was steckt dahinter?
HOLGER HOOS: KI sollte uns Menschen dabei unterstützen, Probleme zu lösen, die wir ohne KI nicht bewältigen können. In der Medizin gibt es viele Anwendungen, in denen das der Fall ist. Auch beim Klimawandel sind wir auf KI angewiesen, um die Atmosphäre, die Meere besser zu verstehen. Ganz wichtig sind aber auch die ethischen Grundlagen in der KI. Wir müssen dafür sorgen, dass der Einsatz von KI nicht zum Verlust der Privatsphäre oder zur Konstruktion letaler autonomer Waffensysteme führt. Kurz: Es geht mir um eine KI zum Wohle der Menschen. Dazu gehört auch, die KI selbst nachhaltiger zu machen.

Wie wollen Sie vorgehen? Datenzentren sind schon jetzt nicht unerheblich am CO₂-Ausstoß beteiligt. Tendenz steigend …
Ganz genau. Bei meiner Forschung geht es deshalb auch darum, maschinelles Lernen effizienter zu machen: mit kleineren Mengen Daten, weniger Berechnungen und damit weniger CO₂-Ausstoß ähnlich gute Resultate zu erzielen. Unser Ziel ist eine Einsparung von 50 bis 90 Prozent. Das würde auch weniger Hardware erfordern und damit den Ressourcenverbrauch durch die Herstellung von Halbleitern verringern.

Sie betreiben Grundlagenforschung, doch Ihre Ergebnisse werden auch in der Wirtschaft genutzt. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?
Wir entwickeln grundlegende Methodik. Und die wird in der KI oft mit sehr realistischen Daten, etwa aus der Wirtschaft, getestet. Die Software, die dabei rauskommt, wird in der Regel als Open Source veröffentlicht, schon wegen der wissenschaftlichen Reproduzierbarkeit und auch, um es anderen einfacher zu machen, darauf aufzubauen. Für die Industrie sind unsere Ergebnisse deshalb schnell anwendbar.

Bekommen Sie Forschungsgelder von der Industrie?
Manchmal ja. Aber uns geht es bei Kooperationen weniger um Geld, sondern wir wollen sehen, wie sich unsere Methodik bei der Lösung tatsächlicher Anwendungsprobleme verhält. Mit der Alexander von Humboldt-Professur bin ich außerdem großzügig ausgestattet. Das Problem ist zurzeit nicht, dass wir nicht genug Geld haben, sondern eher, dass wir Personen mit dem nötigen Talent für die Forschung rekrutieren müssen. Und da ist der Markt schon ganz schön eng.

Weil Sie mit der Industrie konkurrieren?
Es kommt schon vor, dass Doktorand*innen aus meiner Gruppe anschließend in der Industrie arbeiten. Es gibt einfach ein großes Interesse an unseren Themen und an gut ausgebildeten Expert*innen. Ich finde es natürlich gut, wenn sich meinen ehemaligen Mitarbeitenden und Studierenden solche Chancen bieten. Auf der anderen Seite ist es problematisch, wenn unsere Toptalente in der Industrie Arbeitsbedingungen finden, die deutlich attraktiver sind als das, was wir an den Universitäten bieten können.

Welche Folgen hat das?
Es ist natürlich toll, wenn Spitzenforschung auch in der Industrie stattfindet. Wenn sie sich aber hauptsächlich dort konzentriert, haben wir ein Problem. Denn in der Wirtschaft hat man natürlich immer ein spezielles Augenmerk auf die kurzfristigen Erfolge. Die Rolle der Universitäten dagegen ist, das Langfristige, das gesellschaftlich Relevante viel stärker einfließen zu lassen. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich und andere mit großer Freude an der Universität bleiben, selbst wenn die Rahmenbedingungen in der Industrie auch ganz abgesehen vom Gehalt verlockend sind.

Inwiefern?
Etwa durch die Verfügbarkeit von großen Mengen guter Daten oder von großen Rechenkapazitäten. Wenn man zum Beispiel bei Google oder bei DeepMind arbeitet, ist man zudem umgeben von ganz vielen anderen richtig guten Leuten auf dem eigenen Gebiet. Das ist natürlich an der Uni in einer Forschungsgruppe wie meiner auch der Fall, aber in einem ganz anderen Maßstab. Was die universitäre Forschung wiederum für viele attraktiv macht, ist die Konzentration auf gemeinwohlorientierte Lösungen wie bei der mensch-zentrierten KI.

Auch Europa und die Bundesregierung unterstützen diesen Ansatz. Könnte das bei der KI-Entwicklung zu einem Markenzeichen und Standortvorteil für Deutschland bzw. Europa werden in der internationalen Konkurrenz?
Auch in den USA gibt es wichtige Zentren, die sich eine mensch-zentrierte KI mittlerweile auf ihre Fahne schreiben. Aber ich denke, hier in Europa gibt es eine kritische Masse und ein großes Bekenntnis zu dieser Richtung. Und das ist weltweit schon einmalig.

Standortpessimist*innen sagen, Europa sei längst abgehängt von den USA oder China und der dortigen KI-Industrie …
Es gibt auch positive Beispiele, etwa die Übersetzungssoftware DeepL. Aber insgesamt tut Europa zu wenig, um zum Beispiel die von der Europäischen Kommission formulierten Ambitionen auch zu realisieren. Da gibt es eine riesige Lücke. Und das ist der Grund, weshalb ich einen erheblichen Teil meiner Energie darauf verwende, Bewusstsein zu schaffen und Ideen zu entwickeln, wie wir diese unschöne Situation retten können.

KI ist der Schlüssel für die nächste Generation von Wissenschaft. Wer dort zurückfällt, der wird in der Forschung abgehängt.
Holger Hoos, Humboldt-Professor für KI an der RWTH Aachen

Was schlagen Sie vor?
Ich habe 20 Jahre meiner wissenschaftlichen Karriere in Kanada verbracht. Dort hat man es geschafft, mit relativ bescheidenen Investitionen zu einer KI-Superpower zu werden. Und zwar, indem man einen Großteil der Investitionen auf Grundlagenforschung und Universitäten konzentriert hat, ganz bewusst nicht auf die Industrie. In der KI ist es so, dass die Grundlagenforschung oft schon so nah an realisierbaren Anwendungen ist, dass die Industrie automatisch davon angezogen wird. Ich finde, daran sollte sich die deutsche Politik viel stärker ein Beispiel nehmen. Es wäre auch äußerst wünschenswert, so etwas wie die Alexander von Humboldt-Professur auch in anderen europäischen Ländern zu haben. Und wir müssten auf europäischer Ebene Initiativen entwickeln, die international Aufsehen erregen und für Schlagzeilen sorgen, etwa in der New York Times oder der South China Morning Post.

Wie könnte so eine Initiative aussehen?
Ein Beispiel wäre die Einrichtung einer großen Forschungseinrichtung, eines CERNs für KI. Das würde überall für Schlagzeilen sorgen und Talente aus der ganzen Welt anziehen. Wenn man globale Strahlkraft haben will, dann braucht man einen Leuchtturm, der richtig groß und hell ist.

Sie sind einer der führenden Köpfe im europäischen KI-Netzwerk CLAIRE (Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence Research in Europe). Welchen Nutzen hätte eine Großforschungseinrichtung à la CERN?
Unsere Vielfalt und ein Netzwerk in vielen Ländern ist einer der großen Standortvorteile, die wir in Europa haben. Das müssen wir ausbauen. Aber so ein Netzwerk braucht auch einen Brennpunkt, an dem sich Aktivitäten bündeln und konzentrieren. Die Arbeit des CERN hat ja nicht nur damit zu tun, dass dort ein großer Teilchenbeschleuniger betrieben wird. Es geht auch um den persönlichen Austausch, der dort stattfindet und der sehr wichtig für die Wissenschaft ist. Vieles ist eben einfacher und besser zu erreichen, wenn man nah beieinander ist. Durch die Pandemie ist das noch deutlicher geworden.

Das CERN hat den großen Teilchenbeschleuniger. Welche Infrastruktur bräuchte das europäische KI-Zentrum? Einen Riesenrechner?
Unbedingt! Wir brauchen ein ganzes Netzwerk von KI-Rechnern. Ein großer Netzwerkknoten auf europäischer Ebene, dann etwas kleinere in den einzelnen Ländern und zusätzliche Kapazitäten jeweils vor Ort. In Aachen investiere ich als Humboldt-Professor gerade eine Million Euro in einen Großrechner. Bei uns gibt es Forschung, wofür wir unsere eigenen Rechner brauchen, über die wir volle Kontrolle haben. Aber darüber hinaus brauchen wir Kapazitäten, die wir uns als einzelne Forschungsgruppe niemals leisten könnten.

Wie optimistisch sind Sie, dass in Europa noch mehr Geld in die KI-Forschung investiert wird?
Ich glaube, es gibt keine Alternative. KI ist aus meiner Sicht der Schlüssel für die nächste Generation von Wissenschaft und damit Motor des Fortschritts in vielen Bereichen. Wer dort zurückfällt, der wird in der Forschung und dann auch später bei der Lebensqualität der Bürger*innen abgehängt werden.

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