Humboldtianer*innen persönlich

Aus vollem Herzen

Keine Scheu! Beim Shape Note Singing ist musikalische Vorbildung nicht wichtig. Es zählen Spaß und Engagement.

  • vom 
  • Aufgezeichnet von Teresa Havlicek
Juniper Lynn Hill bei einem Shape Note Singing-Treffen mit anderen Sänger*innen
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

JUNIPER LYNN HILL

Professorin Dr. Juniper Lynn Hill aus den USA hat den Lehrstuhl für Ethnomusikologie der Universität Würzburg inne. 2007/2008 war sie Humboldt-Forschungsstipendiatin in Bamberg. Im Mai 2021 wurde sie als Scout für das Henriette Herz-Scouting-Programm der Humboldt-Stiftung ausgewählt.

Humboldt-Forschungsstipendium

Das Bild zeigt mich (rechts) bei einem Shape Note Singing-Treffen in München – vor Corona, als gemeinsames Singen noch selbstverständlich war. Shape Note Singing ist eine Tradition, die vor allem in den Südstaaten der USA verbreitet ist. Sie geht zurück auf das Liederbuch „The Sacred Harp“ von 1844. Die Notenköpfe darin sind als Dreiecke, Quadrate, Kreise oder Rauten dargestellt. Das soll es einfacher machen, vom Blatt zu singen, auch ohne musikalische Vorbildung. Für mich ein sehr egalitärer Ansatz: Es geht nicht darum, perfekte Konzerte zu geben, sondern um die Freude am gemeinsamen Singen aus vollem Herzen. Da gehört es dazu, dass wir uns – statt zum Publikum – einander zugewandt im Quadrat nach den Stimmlagen Sopran, Alt, Tenor und Bass aufstellen.

Ich bin Ethnomusikologin. Musik hilft mir, Gesellschaften und menschliche Erfahrungen besser zu verstehen: Der Blick durch das musikalische Fenster gibt mir ein tieferes Verständnis, wie die betroffenen Menschen globale Phänomene wie etwa den Klimawandel, Migration oder politische Unruhen erleben. Und ich bin überzeugt, dass wir Musiktraditionen anderer Kulturen nur erfassen können, wenn wir sie selbst erfahren. Als ich 2017 als Professorin nach Würzburg gekommen bin, habe ich deshalb einen Studiengang mit Praxisteil entwickelt. Shape Note Singing war der erste Kurs, den ich dafür organisiert habe. Es gibt auch Kurse über afrikanische und arabische Musik, sogar fränkische Volksmusik war schon dabei.

Ich selbst habe das Shape Note Singing in meiner Studienzeit in den USA kennengelernt. Als ich dann 2009 nach Irland gegangen bin, habe ich dort einen Kurs dazu an der Uni angeboten – ein großer Erfolg. In Irland ist eine richtige Bewegung entstanden. Wir haben uns überall zum Singen versammelt, selbst in Pubs. Wir Shape Note Singers treffen uns für ganze Tage oder Wochenenden zu Conventions, manchmal mit mehr als 100 Menschen. Das geht in der Coronapandemie natürlich nicht. Wo möglich singen wir in kleineren Gruppen draußen. Gemeinsames Onlinesingen probieren wir auch, das ist allerdings schwierig, da es minimale Zeitverzögerungen gibt. Manchmal singt eine Person vor, die anderen schalten sich stumm und singen mit. Das ist nicht optimal, aber besser als nichts!

In meiner Forschung beschäftige ich mich auch mit den sozialen und kulturellen Faktoren, die Kreativität beeinflussen. Beim Shape Note Singing beobachte ich immer wieder: Es ist wichtiger mit voller Stimme zu singen, als jeden Ton zu treffen. So verschwindet die Angst, es zählt die Freude am Singen und man wird freier, sich selbst auszudrücken. Genau darin liegt für mich ein Schlüssel zur Kreativität.

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