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Schauplatz ist die größte akute Gesundheitskrise seit den Weltkriegen: Auf dem Gipfel ihres Schaffens, bekommen die harten Wissenschaften plötzlich weiche Knie. Auf einem Berg von mehr als einer halben Million Publikationen, geschaffen in wenig mehr als einem Jahr, vor sich die Täler einer entfesselten Aufmerksamkeitsindustrie, die ihre Held*innen anscheinend am liebsten stürzen sieht. Die Coronaforschung steht auf schwindeligen Höhen und steckt zugleich tief in der Klemme. Aber nicht nur sie. Die Tragödie ist größer. Denn in die Lage, in der sich die Wissenschaften auf einmal wiederfinden, sind sie nicht nur von außen hineingedrängt worden.
Der passende Begriff dafür lautet Sloppy Science. Damit ist hier nicht die schlampige, schlechte Forschung gemeint, die sie schon immer im Rucksack mit sich getragen hat. Vielmehr geht es um die Schwächen einer Wissenschaftskultur, die in der Großkrise besonders zum Tragen gekommen sind. Um eine Flut von Veröffentlichungen – genauer: Preprints und Vor-Vorveröffentlichungen – geht es, die eigentlich noch gar nicht öffentlich sein sollten, weil sie oft Unausgegorenes enthalten oder Unbelegtes behaupten. Auch um kurzatmige Diskurse geht es, die den experimentellen und damit vorläufigen Charakter jeder Forschung zwar erkennen lassen, aber nicht über ihre inhärenten Unsicherheiten aufklären, sondern Verunsicherung schaffen. Und um die schiere Geltungssucht. Kurz: Es geht um Halbgares und Prahlerei, die viele inzwischen nach der wahren Krisenkompetenz der Wissenschaften fragen lassen. Um allzu Menschliches also, könnte man sagen.
Tatsächlich exponiert sich die Wissenschaft so mittlerweile breit über die sogenannten sozialen Medien, die längst selbst Zweifel an ihrer Sozialverträglichkeit erkennen lassen. Für das nüchterne Selbstverständnis und das Funktionieren des Wissenschaftsbetriebs ist die Selbstüberschätzung durch Sloppy Science allerdings etwas, das sich vielleicht am besten mit dem Kanzlerinnenwort vom „Neuland“ beschreiben lässt. Die Selbstsicherheit der Institution jedenfalls ist dahin. Was auch in der Außenwahrnehmung tiefe Spuren hinterlässt. Beispielhaft ist die andauernde Debatte um den Ursprung des Pandemievirus. Seit Beginn der Krise bläst den Forscher*innen bei der Frage, ob es ein natürlicher Übergang auf den Menschen oder ein Laborunfall war, der scharfe Wind der Desinformation ins Gesicht. Angefacht von Rechtspopulist*innen in Gesellschaft und Politik, ja, auch von Regierungen mit eiskaltem Kalkül. Eine grundsätzlich wissenschaftliche Frage, die hochpolitisch aufgeladen wurde, die sich aber ohne sorgfältige, zeitraubende Untersuchungen nicht beantworten lassen wird. Statt dies anzuerkennen und zu vermitteln, lassen sich rund um den Globus Wissenschaftler*innen in Scharen vor den einen oder anderen Karren spannen.
Ein anderes Beispiel: Fallzahl-Prognosen. In der Öffentlichkeit ist die Rolle der Expert*innen als Zukunftsdeuter*innen gefragt wie nie. Die Wissenschaft hingegen – eine Parallelwelt voller Skepsis. Evidenz-Ikone und Datenspezialist John Ioannidis etwa hat sich früh festgelegt, dass die auf Computermodellen basierenden Vorhersagen des Infektionsgeschehens Müll sind, während er selbst das mühsame Geschäft mit lückenhafter Empirie öffentlichkeitswirksam betreibt. Gleichzeitig lassen Forscher*innen in hochrangigen Journalen nicht davon ab, die Prognosemodelle zu verbessern. Dabei ist klar: Scheitern gehört zum Geschäft. Im Moment der globalen Krise allerdings bekommt diese Selbstverständlichkeit, je länger sie dauert, den Außenanstrich von Inkompetenz. Vertrauen erodiert, genau wie das Selbstvertrauen. Vielleicht ist deshalb den Wissenschaften, allen Wissenschaften zusammen, am besten gedient, wenn sie ähnlich wie in der Klimaforschung den wirklich großen Krisen mit einer großen, einer leicht digital zu vernetzenden Kompetenzagentur entgegentreten. Aber das müssten sie schon selbst organisieren.