Eilig zu Papier gebrachte Buchstaben, rastlose Sätze, zwischen denen kaum ein Leerzeichen steht: „Als ich im Deutschen Literaturarchiv Marbach zum ersten Mal vor den Tagebuch- und Manuskriptseiten aus dem Nachlass von Max Bense saß, war mir zum Weinen zumute. Ich fand mich in der Dichte des Materials kaum zurecht. Erst allmählich lernte ich seine Handschrift zu entziffern, als würde ich eine neue Sprache lernen“, erinnert sich die Literaturwissenschaftlerin Rosa Coppola.
Als Humboldt-Forschungsstipendiatin im Team von Gastgeber Stephan Kammer in der Fakultät Germanistik der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität arbeitete sie zur Lyrik des Dichters, Mathematikers, Wissenschaftlers und Philosophen Max Bense. Zwei Jahre lang bewegte sich die aus Neapel stammende Germanistin auf bisher unerforschtem Terrain und untersuchte, wie Bense das Konzept des „Künstlichen“ auf seine poetische Produktion anwendete.
Neuer Zugang
Neben der hohen Forschungsqualität und dem Austausch mit Germanist*innen vor Ort war für Coppola vor allem der direkte Zugang zu Benses Nachlass entscheidend, sich für ein Stipendium in Deutschland zu bewerben. „Ohne die Beschäftigung mit seinen Tagebüchern und Manuskripten wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen“, so Coppola. „Es gibt bisher kaum Sekundärliteratur. Jede Theorie, die ich aufstellte, musste genau belegbar sein.“
Durch diese intensive Auseinandersetzung gelang es Coppola, einen neuen Zugang zu Benses Werk zu finden. „Aufgrund meiner philologisch fundierten Textanalyse konnte ich die bisherigen Missverständnisse ausräumen, dass Bense in seiner lyrischen Praxis ausschließlich Computer programmierte und benutzte. Dazu bereite ich gerade eine Publikation vor.“ Eine Forschungsarbeit, die Coppola fachlich und persönlich wachsen ließ: „In diesen zwei Jahren bin ich stärker und unabhängiger geworden. Dass ich dieses Projekt trotz aller Herausforderungen allein bis zum Ende führte, gab mir Selbstbewusstsein für meine künftige Forschung“, sagt sie.
Kritischer Zugang zur Gegenwart
Die Themen, zu denen Coppola arbeitet, sind eng mit ihrer eigenen Welt verknüpft. „Literatur ermöglicht eine alternative Wahrnehmung des Alltags. Meine Forschungsinhalte eröffnen mir einen kritischen Zugang zur Gegenwart.“ Benses Werk und seine Ausführungen zur „technischen Existenz“, in denen Mensch und Maschine synthetisch verschmelzen, halfen Coppola, technologische Entscheidungen bewusster zu treffen.
Während Literatur ihr heute einen Zugang zur Welt ermöglicht, war in ihrer Kindheit und Jugend das Gegenteil der Fall. „Ich wuchs in einer kleinbürgerlichen italienischen Provinzstadt auf und habe schon früh viel Zeit mit Büchern verbracht. Literatur half mir, mich aus meinem Alltag hinaus zu träumen.“ Eines ihrer Lieblingsgedichte zu Schulzeiten war I wandered lonely as a cloud des englischen Romantikers William Wordsworth. Für Germanistik als Studienfach entschied sich Coppola ursprünglich mit dem Wunsch, die Werke deutscher Philosophen im Original lesen zu können. Im Studium aber entdeckte sie ihr Interesse für performative Prosa, konkrete Poesie sowie experimentelle Lyrik und blieb dabei.
Ihrer Faszination für Sprache folgt Coppola auch als Teil des deutsch-italienischsprachigen Übersetzungskollektivs wandering translators und beim Übersetzen des Buchs Forschungsbericht ihres Lieblingsautoren Hubert Fichte. „Sein intersektionaler Blick auf Missstände interessiert mich sehr. Mir gefällt, dass er jegliche Fassade von Moral zerbricht, sprachlich brisant über die westliche koloniale Auffassung schreibt und zeigt, dass weiße Privilegien überall präsent sind.“
Intersektionaler Blick
Auch Coppola wird immer wieder bewusst, wie sich verschiedene Formen von Diskriminierung überschneiden. „Wenn das akademische System divers werden soll, muss Klassismus schon in Schulen reflektiert werden. Alle Kinder brauchen die gleichen Chancen und marginalisierte Gruppen besondere staatliche Unterstützung.“ Auch die Art, wie Führungspositionen in der Wissenschaft ausgefüllt werden, hält Coppola für entscheidend. „Ich habe einige tolle Professorinnen erlebt, die ihre Macht nicht patriarchal ausübten, sondern durch Intensität und Leidenschaft in der Lehre.“ Was sie zudem beobachtet: „Es gibt zu viel Rainbow-Washing. Einige Institutionen schmücken sich mit dem Label Diversität und bringen keine wirkliche Veränderung in Gang.“ Ihr Wunsch für die Zukunft: „Dass die Wissenschaftswelt eines Tages allen offensteht und dass Diversität mehr als nur ein Hashtag ist.“
Text: Esther Sambale