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Professorin Dr. Sophia Labadi ist Ethnologin und Professor of Heritage an der University of Kent, Vereinigtes Königreich. Die Expertin für Kulturerbe- und Menschenrechtsforschung erhielt 2023 den Reimar Lüst-Preis für internationale Wissenschafts- und Kulturvermittlung.
Wenn Sophia Labadi am Schreibtisch sitzt, ist aus ihrem Arbeitszimmer meist Jazz zu hören. „Ich mag es, wie kreativ und divers diese Musik ist. Es hat mich schon immer fasziniert, dass ein und dasselbe Stück je nach Improvisation ganz unterschiedlich klingt.“ Mitte der 1990er-Jahre, als sie ihren Bachelor-Abschluss in Politik- und Sozialwissenschaften machte, arbeitete sie als Freiwillige beim renommierten Grenoble Jazz-Festival. „Dort habe ich eine Ausstellung mit dem Titel ‚Jazz‘ mitorganisiert, in der Scherenschnitte von Henri Matisse zu sehen waren. Eine Erfahrung, die mich so sehr begeistert hat, dass ich für mein Masterstudium ein Fach suchte, das inhaltlich eng mit Kunst, Museen und Kultur verknüpft ist, und ich mich um einen Platz im Master-Studiengang Kulturerbe am University College in London beworben habe“, erinnert sich Sophia Labadi. Über zwei Jahrzehnte später ist sie Professorin für Kulturerbe an der britischen Universität Kent und gilt als herausragende interdisziplinäre Forscherin auf ihrem Gebiet. Kürzlich wurde ihr der Reimar Lüst-Preis für internationale Wissenschaftsund Kulturvermittlung verliehen, den die Humboldt-Stiftung gemeinsam mit der Fritz Thyssen Stiftung vergibt. Eine Kernfrage prägt ihre wissenschaftliche Arbeit: Wie kann kulturelles Erbe zur nachhaltigen Entwicklung etwa in den Bereichen Armutsbekämpfung oder Klimawandel beitragen?
Dynamisches Erbe
Wer verstehen will, unter welchen Voraussetzungen Naturund Kulturerbe einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten können, sollte laut Labadi einen kritischen Blick auf die gängige Definition des Begriffs werfen. „Noch immer wird Natur- und Kulturerbe als unveränderbarer Teil der Vergangenheit betrachtet. Eine Haltung, die dazu führen kann, dass potenziell innovative Lösungen, die uns die Vergangenheit liefern könnte, dann übersehen oder ignoriert werden.“ So wie in der senegalesischen UNESCOWelterbestätte Sine Saloum, die Labadi für Feldstudien im Rahmen ihres 2022 erschienenen Buchs „Rethinking Heritage for Sustainable Development“ besuchte. Die weitverzweigte Sumpflandschaft an der Mündung der Flüsse Saloum und Sine in den Atlantik ist durchzogen von kleinen Inseln und Mangrovenwäldern. Dort dienten Muschelhügel aus der Zeit um 5.000 v. Chr. den Bewohner*innen als effiziente Barrieren gegen den – zunächst nur durch die Gezeiten, später zudem durch den Klimawandel – steigenden Meeresspiegel, bis diese vor Kurzem als Baumaterial abgetragen wurden. „Traditionelle Lösungen werden oft als irrelevant abgetan und die lokale Bevölkerung als in der Vergangenheit lebend angesehen. Dabei setzt man aktuell interessanterweise unter anderem in den USA und den Niederlanden wieder Austernriffe als Küstenschutz ein“, sagt Labadi. Sie plädiert für einen ganzheitlichen und dynamischen Natur- und Kulturerbe-Begriff. Die Einteilung in „materielles“ und „immaterielles“ Erbe sei eurozentrisch und kann ihr zufolge Entwicklung verhindern: „Wir müssen anerkennen, dass Kultur und Natur miteinander verwoben sind. Eine Stadt wie Paris kann man nicht ohne die Seine verstehen. Gleiches gilt für viele Welterbestätten.“
Wie koloniale Statuen in afrikanischen Ländern nach der Unabhängigkeit genutzt und interpretiert wurden, untersucht Labadi aktuell. Sie beleuchtet die komplexen Dynamiken von Macht, Erinnerung und Identität und will eine breite Diskussion über Denkmäler in postkolonialen Gesellschaften anregen
Ein Beispiel für eine Welterbestätte, die über die Kategorien von Natur- und Kulturerbe hinausgeht und eine komplexere Geschichte vermittelt, ist für Labadi Robben Island in Südafrika. Das dortige ehemalige Gefängnis, in dem unter anderem Nelson Mandela lange Jahre inhaftiert war, ist heute ein Museum; einstige politische Gefangene bieten Führungen an. Eine Solaranlage trägt zur sauberen Stromgewinnung bei und sozioökonomische Initiativen in Form eines Handwerkszentrums unterstützen Angehörige ehemaliger Gefangener. Labadi sagt: „Wer Natur- und Kulturerbe in afrikanischen Ländern erfolgreich und jenseits kolonialer Strukturen managen will, muss ganzheitlich denken.“ Zwar werde über Natur- und Kulturerbe als Mittel zur Armutsbekämpfung nachgedacht, etwa durch Tourismus. Doch noch immer existiere die neokolonialistische Haltung, Tourist*innen aus dem globalen Norden könnten ein Ende der Armut herbeiführen, so Labadi. Einheimische würden oft so ausgebildet, dass sie in prekärenJobs vor allem Bedürfnisse von Ausländer*innen erfüllen,etwa als Reiseleiter*innen oder als Servicekräfte in Restaurants oder Hotels, die überwiegend im Besitz Weißer sind. Labadi sagt: „Der Tourismus muss ernsthaft überdacht werden, damit er den lokalen Gemeinschaften Vorteile bringt.“
Forschung in der Praxis
Ihre Theorien und Erkenntnisse prägen nicht nur den akademischen Diskurs, sondern zudem die Praxis der Naturund Kulturerbeverwaltung weltweit. So arbeitet Labadi mit internationalen Organisationen wie der UNESCO oder der Weltbank und mit Regierungen von Ländern wie Südkorea zusammen. Sie berät etwa bei der Entwicklung von Strategien im Bereich Natur- und Kulturerbe, bei Veröffentlichungen oder bei neuen Lehrplänen zum Thema Kulturerbe und Museen. „Dieser Blick in die Praxis bereichert meine Arbeit enorm und führt mich immer wieder zu neuen Forschungsfragen“, sagt Labadi. „Meine Forschung soll einen Nutzen haben und sich gesellschaftlichen Herausforderungen widmen“, erklärt sie weiter. „Als Wissenschaftlerin habe ich auch eine soziale Verantwortung. Mir erscheint es unmöglich, mich nicht mit den Problemen des realen Lebens zu befassen.“ Was Labadi außerdem wichtig ist: dass mehr afrikanische Erbestätten anerkannt werden. „Seit Beginn meiner Forschung befinden sich noch immer über die Hälfte der Welterbestätten in Europa – diese koloniale Symbolik muss dringend abgebaut werden.“
Mit der eigenen Identität verknüpft
Eigentlich wollte Labadi anfangs nicht zu Themen wie Kolonialismus oder Diversität forschen. „Erst als ich meine erste feste akademische Anstellung bekam und später die volle Professur, begann ich damit.“ Als erste Frau mit afrikanischem Hintergrund erhielt Labadi, die als Kabylin Angehörige einer indigenen Berbergruppe aus Algerien ist, 2019 eine Professur für Kulturerbe in Großbritannien. „Das war ein historischer Moment für mich, nicht nur wegen meiner Herkunft, sondern auch, weil ich die erste Akademikerin aus einer Familie bin, die der sogenannten lower class angehörte.“ Erst als sie sich sicher war, dass die akademische Welt ihren Namen fest mit der Kulturerbeforschung verbindet, fing sie an, zu Migrations- und Gerechtigkeitsthemen zu arbeiten – Themen, die auch mit ihrer eigenen Identität verknüpft sind. „Mir war es sehr wichtig, nicht in eine Schublade gesteckt zu werden – als Wissenschaftlerin mit Migrationshintergrund, die nur zu Kulturerbe- und Migrationsthemen arbeitet.“
Anhand von umfassenden Fallstudien führender Museen in Frankreich, Dänemark und Großbritannien stellt Labadi auf interdisziplinäre Weise folgende These auf: Museen können jenseits der Ausstellungsräume durch eigene Programme einen entscheidenden Beitrag leisten, um unter anderem die Sprach- und Berufskompetenzen von Migrant*innen zu fördern.
Für ihr Buch „Museums, Immigrants, and Social Justice“ untersuchte sie in Fallstudien, wie Museen dazu beitragen können, zentrale Probleme von Einwanderer*innen anzugehen. Labadi führt das Beispiel der dänischen Nationalgalerie an: In einem sechswöchigen Beschäftigungsprogramm für Sprachschüler*innen erarbeiteten die Teilnehmenden dort Interpretationen zu Kunstwerken ihrer Wahl und trugen sie auf Dänisch bei Museumsführungen vor. Labadi sagt: „Museen sollten anerkennen, dass Immigrant*innen, die die Sprache ihres Gastlandes lernen, sowohl zur Interpretation von Sammlungen beitragen als auch den Besuch anderer Zuwander*innen erleichtern können.“ Ihre Forschung zeige zudem, dass auf struktureller Ebene trotz aller Bemühungen noch immer grundlegender Handlungsbedarf bestehe. So seien People of Colour als Künstler*innen selten integraler Bestandteil von Dauerausstellungen, sondern eher am Rande in Wechselausstellungen. „Europäische Museen sind koloniale Einrichtungen und ihre Arbeit ist von kolonialen Praktiken durchdrungen.“ Was laut Labadi ein Anfang sein könnte, dies zu ändern: „Migrant*innen und People of Colour einzustellen, die Entscheidungsgewalt besitzen und den Kern der Museumspraxis wirklich verändern wollen.“
Dekolonialisiertes Denken
Doch nicht nur in Museen wirken koloniale Strukturen fort. Labadi sagt: „Wir sehen diese Mechanismen überall. Etwa in französischsprachigen Ländern Afrikas, wo Kinder aus Schulbüchern lernen, die in Frankreich produziert werden und in denen sie nur wenig über ihre eigene Geschichte erfahren.“ Oder in der Schule ihrer Tochter: „Dort arbeiten die einzigen People of Colour als Reinigungskräfte oder in der Kantine, nicht aber als Lehrer*innen“, sagt Labadi.
Wie und ob Kulturerbe zur nachhaltigen Entwicklung beitragen kann, erforscht Labadi in diesem Projekt. Auf Basis einer historischen Analyse internationaler Ansätze zum Thema „Kultur“ und einer kritischen Untersuchung von Kulturerbe für Entwicklungsprojekte in Äthiopien, Mosambik, Namibia und Senegal erarbeitet sie Empfehlungen für eine neue Ausrichtung der Kulturerbe-Praxis.
In ihrem neuesten Projekt befasst sie sich mit kolonialen Statuen im postkolonialen Afrika und der Frage, ob Geschichte zerstört wird, wenn diese aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. „Wenn wir anerkennen, dass Natur- und Kulturerbe dynamisch sind, können Statuen abgebaut werden, um den Weg für ein kulturelles Erbe zu ebnen, das besser mit der lokalen Geschichte übereinstimmt“, ist Labadis Position. Gerade interessiert sie sich auch für künstlerische Ansätze, die Statuen ersetzen und Menschen im öffentlichen Raum zum Nachdenken bringen könnten. So wie die Installation PeopL der belgisch-ruandischen Künstlerin Laura Nsengiyumva: eine Eisreplik des Reiterstandbilds von König Leopold II., der für die Kolonialisierung des Kongo-Freistaats und die anschließende Ausbeutung der dortigen Ressourcen verantwortlich war. Die Künstlerin ließ die Statue des belgischen Kolonialherrschers während des Kunst-Events „Nuit Blanche“ im Laufe eines langen Abends vor Publikum im überdachten Innenhof einer Brüsseler Grundschule schmelzen. Labadi findet: „Das war eine sehr passende Art zu zeigen, wie komplex und langwierig es ist, koloniale Strukturen zu verändern und Wandel herbeizuführen.“