Gastbeitrag

Warum wir den Postkolonialismus brauchen

Wie bei jedem neu entstehenden Paradigma rufen die Worte „Postkolonialismus“, „postkoloniale Kritik“, oder „postkolonialer Ansatz“ heftige Reaktionen hervor.

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  • Gastbeitrag von David Simo
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Der Germanist Professor David Simo ist emeritierter Professor für German Studies an der Université de Yaoundé 1, Kamerun. 2008 erhielt er den Reimar Lüst-Preis der Humboldt-Stiftung und der Fritz Thyssen Stiftung.

Reimar Lüst-Preis für internationale Wissenschaftschaftler*innen
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Portraitfoto von David Simo
 

Wie bei jedem neu entstehenden Paradigma rufen die Worte „Postkolonialismus“, „postkoloniale Kritik“, oder „postkolonialer Ansatz“ heftige Reaktionen hervor: begeisterte, produktive Übernahme, hochmütiges Ignorieren, aber auch Irritationen, die sich zu wütender Verwerfung steigern können. Gerade diese Reaktionen sind jedoch der Beweis dafür, dass hier neue erkenntnistheoretische Perspektiven eröffnet werden, die mit mächtigen Wissensordnungen und Selbstverständlichkeiten kollidieren. Nicht wenige in Europa erleben den postkolonialen Ansatz als provokativen Versuch, Erkenntnisse und Theorien durchzusetzen, die außerhalb europäischer Denktradition entstanden sind. Gewiss, manche dieser Traditionen – wie Nietzsches Idee einer kritischen Beschäftigung mit der Geschichte oder Foucaults Genealogie des Wissens – wurden zunächst von Intellektuellen vom „Rand“ der globalisierten Welt übernommen und weitergedacht. Sie haben mithilfe dieser Ideen ihr Unbehagen über die Rolle zum Ausdruck gebracht, die ihnen in der globalisierten Welt zugeschrieben wird. Zugleich wurden eigene Theorien – lokale Narrative – entwickelt. Philosoph*innen und Literat*innen beschreiben die Welt als das Produkt von Machtdispositiven, Machtverhältnissen und geschichtlichen Handlungen.

Wir wissen nun mehr über die Wahrnehmung und Bewertung von Menschen und Kulturen, die Rolle von Macht bei der Gestaltung von sozialen Beziehungen und die Zirkulation von Waren und Menschen. Zugleich haben wir viel gelernt über die Vorstellungen, Gefühle und Fantasien, die diesen Prozessen innewohnen. Die gewonnenen Erkenntnisse haben auch Auswirkungen auf zivilgesellschaftliche und gedächtnispolitische Forderungen und Handlungen oder werden von ihnen begleitet. In Deutschland wie in vielen anderen Ländern entsteht so gerade eine Wissensgemeinschaft, die in geopolitischen Fragen und in der Produktion von Zusammenlebenswissen in der heutigen Welt auf der lokalen und auf der planetarischen Ebene noch viel zu leisten vermag.

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