Zum Inhalt springen
- {{#headlines}}
- {{title}} {{/headlines}}
Eine Annahme schien im globalen Wissenschaftsbetrieb lange Zeit zementiert gewesen zu sein: Relevante, bahnbrechende Forschung, die mit ihren Analysen, Entdeckungen und Innovationen die Menschheit entscheidend voranbringt, findet ausschließlich in den einkommensstarken Ländern des globalen Nordens statt. In Ländern des globalen Südens mit niedrigen und mittleren Einkommen dagegen wurden die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Spitzenleistungen die längste Zeit allenfalls konsumiert. Doch entspricht diese Annahme tatsächlich der Realität? Wie (un-) gerecht ist der globale Wissenschaftsbetrieb?
Ein Blick auf die internationale Wissenschaftslandschaft ergibt zunächst ein recht eindeutiges Bild: Nordamerikanische Ivy-League und europäische Eliteuniversitäten führen bis heute die einschlägigen Rankings an. Als ausgewiesene Exzellenzhubs gelingt es ihnen leichter, im internationalen Wettbewerb herausragende Wissenschaftler*innen anzuziehen – die dann dort erneut exzellente Forschung betreiben. Ihnen gegenüber stehen Universitäten, beispielsweise in Subsahara- Afrika, die oft nicht einmal das Basisequipment finanzieren können, das nennenswerte Forschung überhaupt erst möglich macht. Auch die Redaktionen führender Wissenschaftsmagazine sind traditionell in Europa und Nordamerika angesiedelt und entscheiden so mithilfe von Peer-Reviews und einer auf den globalen Norden ausgerichteten Auswahlpolitik darüber mit, welche Forschung, welches Wissen und welche Form der Wissensgewinnung als Standard gelten.
Im Fokus: Postdocs in Afrika
Auch in Afrika schlagen immer mehr Studierende den Weg zur Promotion ein. Analog wachsen die Bedeutung von und der Bedarf an Postdoc-Stellen – eine Herausforderung für die Wissenschaftssysteme afrikanischer Länder. Die Zahlen stammen aus einer Umfrage der Zeitschrift „Nature“ aus 2023. Sie gibt neue Einblicke und zeigt Tendenzen auf, gilt aber nicht als repräsentativ. Von den 3.838 befragten Postdocs lebten nur 91 auf dem Kontinent, zudem stammten sie vornehmlich aus Südafrika, Nigeria und Ägypten.
Quelle: „Nature“-Postdoc-Umfrage in Zusammenarbeit mit dem Londoner Bildungsforschungsunternehmen Shift Learning
Ungleiche Verteilung
„Sowohl die Ressourcen als auch die Infrastruktur sind innerhalb des Systems der globalen Wissensproduktion ungleich verteilt“, kritisiert die Juristin und Wissenschaftstheoretikerin Sheila Jasanoff, die an der Harvard University das Fach Science and Technology Studies gegründet hat. „Relevant sind hier nicht nur die Pro-Kopf-Investitionen von Staaten in die Wissenschaft, sondern auch sekundäre Faktoren, wie etwa die Rechenleistung von IT-Systemen, die Forschenden zur Verfügung steht.“ Dies wiederum hänge auch damit zusammen, ob es in dem jeweiligen Land ein stabil funktionierendes Stromnetz gibt. „Solche Faktoren, die in manchen Regionen der Welt selbstverständlich sind, entscheiden darüber, wer mit wem kooperiert und ob sich kooperierende Forschende an unterschiedlichen Standorten in einem Videoanruf ohne technische Unterbrechung über eine relevante Frage austauschen können“, sagt Jasanoff, die 2017 mit dem Reimar Lüst-Preis der Humboldt-Stiftung ausgezeichnet wurde.
Sie fordert daher weitreichende Veränderungen. „Wir sprechen häufig davon, dass Innovationen durch Wissenschaft entstehen“, sagt sie. „Ich denke, tatsächlich brauchen wir eine neue Ära der Innovation in unserem Denken über die Wissenschaft.“ Dazu gehöre anzuerkennen, dass die Metriken und Konzepte, anhand derer Fortschritt und Exzellenz gemessen werden, nicht frei von kolonialem Erbe seien. „Was wir brauchen, ist kein afrikanisches CERN“, sagt Jasanoff, ebenso wenig wie den Hierarchiegedanken, der hinter einer solchen Forderung stehe. „Wir müssen begreifen, dass es neben den im globalen Norden besonders anerkannten Naturwissenschaften andere Konzepte von Wissen und Wissensproduktion gibt, die gleichwertig relevant und förderungswürdig sind.“
Eine Institution, die das bereits anerkannt habe, sei das Intergovernmental Panel on Climate Change (ICCP). Hier ist indigenes Wissen zur Bekämpfung des Klimawandels mittlerweile willkommen. Von indigenem Wissen zu sprechen, zeuge jedoch ebenfalls von westlich geprägtem Schubladen- und Hierarchiedenken, kritisiert Jasanoff. „Die Menschen im Westen begreifen sich selbst nicht als ‚indigen‘, weil sie dieses Wissen mit ‚primitiv‘ assoziieren“, erklärt sie. „Wir müssen akzeptieren, dass Wissen umfassender ist als das, was Forschende im Labor oder mithilfe mathematischer Modelle generieren – und dass es nicht zwingend aus Universitäten kommt.“
Stand der Entwicklung Künstlicher Intelligenzen (KI) weltweit
KI gilt heute als einer der Indikatoren für Innovationskraft. Der AI Index Report der Stanford University liefert einen Stand über die Entwicklung Künstlicher Intelligenzen (KI) weltweit. Der Bericht aus 2024 geht auf den technischen Fortschritt, die öffentliche Wahrnehmung von KI und geopolitische Entwicklungen ein, beispielsweise in welchen Ländern und Branchen die meisten KI-Modelle entwickelt wurden. Hier zeigt sich global eine breitere Länderverteilung – und die Industrie liegt klar vor der akademischen Forschung. Dies mag unter anderem auch an den Kosten liegen, die insbesondere in das Training dieser Modelle fließen, wie die Studie nahelegt.
Quelle: The AI Index Report 2024. Measuring trends in AI. Stanford University
Der Menschlichkeit beraubt
Auch Sabelo J. Ndlovu-Gatsheni, Professor und Chair of Epistemologies of the Global South mit Fokus Afrika an der Universität Bayreuth und wissenschaftlicher Gastgeber der Humboldt-Stiftung argumentiert so: „Mit Beginn der Moderne wurden die Menschen rassifiziert und alle, die nicht weiß waren, wurden gemäß den Abstufungen ihrer Hautfarbe ihrer Menschlichkeit beraubt“, sagt er. „Wer als Unterkategorie des Menschen gilt, dem gesteht man weder Geschichte noch Wissen noch Kultur noch Sprache zu.“ Bezogen auf die Problematik des Klimawandels etwa bedeute das: „Wer nicht an den technologischen Fortschritt glaubt, sondern sich als Teil einer belebten Natur begreift, in der auch Bäume, Flüsse und Berge Lebewesen sind, gilt als barbarisch und zu zivilisieren“, sagt Ndlovu-Gatsheni. Angesichts der Komplexität der Herausforderungen der Menschheit fordert er, es zu „wagen, all das bisher Geglaubte fundamental infrage zu stellen und in einen Prozess des Verlernens von Gewissheiten einzutreten.“
Exzellenter Süden
Dazu sei auch die Abkehr von den Wissenshubs einkommensstarker Nationen notwendig, sagt Sheila Jasanoff. „Junge international mobile Wissenschaftler*innen aus dem globalen Süden haben fast alle in Nordamerika und in Europa studiert“, sagt sie. Dass junge Forschende aus dem globalen Norden ihren Abschluss im globalen Süden machen, sei dagegen sehr selten. Dabei sei es theoretisch möglich, auch in Ländern des globalen Südens exzellente Bildung anzubieten – für einen Bruchteil der Kosten der Ivy League. Jasanoff verweist auf die Frugal Science, ein Konzept aus Indien, das für sparsame Wissenschaft steht. Kapital und Materialeinsatz sollen dabei so gering wie möglich sein. „Was die Sparsamkeit der Wissenschaft ausmacht, sodass sie trotzdem Wissenschaft bleibt, ist für sich genommen eine wissenschaftliche Frage, die es zu erforschen gilt“, sagt sie.
Ähnliche Entwicklungen beobachtet Daya Reddy in Afrika. Der emeritierte Professor für angewandte Mathematik an der Universität Kapstadt und ehemalige Präsident des International Science Councils ist Vorsitzender des International Advisory Boards der Humboldt- Stiftung. „Es entstehen längst regionale Hubs“, sagt Reddy und nennt die Alliance of Research Universities in Africa (ARUA) als Beispiel: ein afrikanisches Netzwerk besonders forschungsintensiver Universitäten, das derzeit 23 Hochschulen umfasst. „Auch an meiner Universität kommen bereits 15 Prozent der Studierenden aus anderen afrikanischen Ländern, weil die Qualität unseres Bildungsangebots so hoch ist“, sagt er. Um solche regionalen Wissenschaftshubs weiter zu etablieren und zu stärken, seien Forschungskooperationen mit Wissenschaftler*innen des globalen Nordens essenziell. „Nur so werden Universitäten im globalen Süden zu attraktiven Studienzielen.“
„Macht und Wissen – Globalen Ungleichgewichten in unseren Wissenssystemen entgegentreten“: Auch das Humboldt Residency-Programm 2024 mit elf internationalen Teilnehmenden aus Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft setzt sich mit Herausforderungen und neuen Wegen des globalen Wissenstransfers auseinander.
Reddy sieht vor allem internationale akademische Institutionen in der Pflicht, eine gerechte globale Forschungslandschaft zu fördern. „Die Vergabekriterien für Wissenschaftsförderung müssen so gestaltet sein, dass daraus gerechte Nord-Süd-Wissenschaftspartnerschaften entstehen, und keine ‚Helikopter- Wissenschaft‘, bei denen Daten im globalen Süden gesammelt werden, die Forschenden, die das erledigen, aber keine gleichberechtigten Partner*innen sind“, sagt er. Sabelo J. Ndlovu-Gatsheni will das Thema Augenhöhe zunächst theoretisch angehen, bevor es an die Entwicklung von Lösungen geht. „Wir müssen erst einmal anerkennen, mit welchen Problemen wir es überhaupt zu tun haben“, sagt er. „Durch gute Absichten allein werden die etablierten Machtstrukturen nicht in sich zusammenbrechen.“ Die zentrale Frage sei: „Wie stellen wir sicher, dass alles Wissen, das die Diversität und Pluralität der Menschheit widerspiegelt, gehört wird?“ Dabei gebe es derzeit viele Ansätze und Überlegungen, die man zusammenführen müsse. „Niemand von uns hat einen fertigen Entwurf zu der Frage, wie ein gerechtes Wissenschaftssystem gestaltet sein soll“, sagt er. „Aber im Prozess des Verlernens alter Gewissheiten, in den wir alle eintreten müssen, wird ein Weg dorthin entstehen.“