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Viele wissenschaftliche Disziplinen haben sich zur Hochzeit des Kolonialismus im 19. Jahrhundert überhaupt erst entwickelt und verfestigt“, sagt Ulrike Lindner, Historikerin und Expertin für Imperial- und Kolonialgeschichte. So seien Kolonial-, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte heute untrennbar miteinander verwoben. Die Geografie etwa habe mittels Vermessungsprojekten und Kartografie die Basis für spätere Eroberungsfeldzüge geliefert. Die Biologie profitierte vom Studium der Pflanzen und Tiere, die in den Kolonien gesammelt wurden. Und Disziplinen wie die Ethnologie und Anthropologie wären ohne den Kolonialismus wohl gar nicht erst entstanden.
Auf ihren Streifzügen durch die Kolonien sammelten europäische Abenteurer, Händler und Wissenschaftler Unzähliges ein, brachten es zurück nach Europa – von Gesteinsproben über kulturelle Artefakte und Alltagsgegenstände bis hin zu Menschen, die in europäischen Völkerschauen ausgestellt wurden. Nicht selten war es Ziel dieses Sammelns und Forschens, die vermeintliche Überlegenheit westlicher Gesellschaften zu untermauern. „Die Ethnologie etwa hat mit der Vorannahme Objekte gesammelt, dass andere Kulturen minderwertig seien“, erklärt Ulrike Lindner, die 2005 mit einem Feodor Lynen-Stipendium der Humboldt-Stiftung an der University of Cambridge im Vereinigten Königreich forschte. „Und viele Anthropologen wollten anhand von Schädelvermessungen beweisen, dass Menschen aus nicht-europäischen Gesellschaften primitiver und eingeschränkter seien als Europäer*innen. In der damaligen Zeit galt das als Wissenschaft. Nach heutigem Wissensstand ist es Rassismus.“
Eurozentrische Annahmen – oft, aber nicht immer rassistischer Natur – prägten nicht nur die Sammelleidenschaft europäischer Entdecker, sie fanden auch Eingang in Reiseberichte, Biografien und Geschichtsbücher. Hierbei dominierte ein bestimmter Typus von Erzählung: „Die Darstellung der Erforschung der Welt war oftmals vom Topos des europäischen oder amerikanischen Mannes geprägt, der die Forschung, die Entwicklung und überhaupt den Fortschritt voranbringt“, erklärt Moritz von Brescius, Historiker und Experte für europäische Forschungsreisen nach Übersee an der Universität Bern, der derzeit in Harvard forscht. „Die Vorstellung, dass es diesen großen europäischen Entdecker an der Spitze einer Expeditionsgruppe gibt, der gegen eine feindliche Natur und angeblich feindliche Einwohner*innen das Licht der Aufklärung in unbekannte Weltteile trägt, entspricht aber nicht der Wahrheit.“
Unverzichtbares Wissen
Intensiv geforscht hat von Brescius zu den Expeditionen der Brüder Schlagintweit aus München, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung Alexander von Humboldts nach Indien und Zentralasien aufbrachen. „Zum Teil hatten sie mehr als 50 oder sogar 100 Begleiter dabei: lokale Träger, Wegführer, Übersetzer, Köche, Jäger. Diese verfügten über unverzichtbares Wissen – zum Beispiel zu Bergpässen, Quellen und Heilpflanzen.“ Auch die Sprachen der bereisten Regionen beherrschten die europäischen Expeditionsleiter in der Regel nicht und waren somit in mehrfacher Hinsicht von ihren einheimischen Begleitungen abhängig. In Reiseberichten jedoch wurde das in der Regel nicht erwähnt oder im Laufe der Editionsgeschichte aus ihnen getilgt – aus vielfältigen Gründen. Rassistische Ressentiments und die kulturellen Grenzen des Sagbaren jener Zeit zählen ebenso dazu wie Versuche, die Absatzzahlen der Bücher mittels klischierter Darstellungen zu steigern.
Auch mussten die Europäer bei ihren Expeditionen zumeist keine „wilde Natur“ erschließen, wie es die Darstellungen mitunter nahelegen: Afrikareisende zum Beispiel griffen auf vorhandene Infrastrukturen mit Trägersystemen und Karawanenrouten zurück. In Indien wiederum konnten europäische Reisende auf bestimmten Routen bequem in Hotels einkehren. „Das widerspricht natürlich dem Bild, das wir von Übersee- Expeditionen haben,“ sagt von Brescius. „Wenn von Entdeckungen die Rede ist, muss man sich schlicht immer fragen: eine Entdeckung für wen?“ Was für europäische Reisende neu war, war den Menschen in der Region meist nur allzu vertraut. Und oftmals teilten sie ihr Wissen bereitwillig.
„Einheimische zeigten den Eroberern zum Beispiel natürliche Heilpflanzen. Daraus wurden dann wissenschaftliche Erkenntnisse, die zur Entwicklung von Medikamenten verwendet wurden“, führt Marleen Haboud aus. Sie ist Anthropologin und Gründerin des interdisziplinären Forschungsprogramms Oralidad Modernidad an der Pontificia Universidad Católica del Ecuador. Als Soziolinguistin forscht sie zu indigenen Sprachen. „Die westliche Wissenschaft stützt sich insofern seit Langem auf das Wissen und auch auf die Ausbeutung kolonisierter Völker.“
Verlust an Kultur
Die Folgen für die kolonisierten Menschen waren und sind gravierend. Bis heute schämten sich viele Indigene ihrer Wurzeln, berichtet die Georg Forster-Forschungspreisträgerin Haboud. „Im kolonialen Kontext wurden indigene Völker als nichtmenschliche Wesen betrachtet, die keine Seele haben. Ihre Sprachen galten als nutzlos. Bis heute vernachlässigen viele Indigene das Erlernen ihrer angestammten Sprache und bemühen sich, den Spanier*innen und Stadtbewohner*innen zu gleichen.“ Kolonialismusfolgen dieser Art seien überall auf der Welt zu beobachten, gefährdeten nicht nur den Lebenserfolg indigener Menschen, sondern auch die kulturelle Vielfalt. „Von den rund 7.000 indigenen Sprachen weltweit sind fünfzig Prozent stark gefährdet, innerhalb der kommenden Dekade auszusterben. Damit gehen natürlich nicht nur die Sprachen, sondern auch einzigartiges Wissen, einzigartige Praktiken und Traditionen verloren“, erklärt Haboud.
„Es gibt viele Verluste an eigener Kultur und eine mangelnde Wertschätzung der eigenen Kultur“, sagt auch die Historikerin Ulrike Lindner. Unter anderem gingen dadurch Möglichkeiten verloren, die eigene Geschichte zu verstehen. So befinden sich viele kulturell und historisch bedeutsame Artefakte in Europa – bis heute. „Europäer*innen müssen nicht nach Afrika reisen, um Bilder von Rembrandt zu betrachten. Viele Afrikaner*innen aber müssten nach Europa fahren, um Objekte und Kulturgüter aus ihrer Heimat zu sehen.“ Ein Beispiel: Das berühmte Brachiosaurusskelett im Berliner Naturkundemuseum, das aus Tansania stammt. „In Tansania wurden sehr viele solcher Dinge gefunden. Heute befindet sich davon aber kaum noch etwas im Land“, sagt Ulrike Lindner. „Das spiegelt dieses Machtgefälle zwischen Europa und den ehemaligen Kolonien und befördert es zugleich.“
Bis heute werde indigenes Wissen häufig nicht geschätzt, sondern durch die Brille der Kolonialgeschichte betrachtet, kritisiert Marleen Haboud. Ulrike Lindner beobachtet ebenfalls, dass Strukturen und Praktiken aus der Kolonialzeit fortbestehen – auch in der Wissenschaft. „Bis heute werden bei Forschungsprojekten in den Ländern des globalen Südens oft Dinge zusammengetragen und dann in den USA oder in Europa verwertet. Ich denke, auch dieses Zuarbeiten bei der Wissensproduktion ist eine Kolonialismusfolge.“ In den letzten zwei Jahrzehnten jedoch sei ein Bewusstseinswandel zu beobachten. Europäische Forschende übten zunehmend Selbstkritik, reflektierten das koloniale Erbe der Wissenschaften. Länder des globalen Südens zeigten sich zudem selbstbewusster, beschränkten den Zugang zu ihren Ressourcen, forderten Beteiligung an Forschungsvorhaben ein. Inzwischen werde auch in der Kolonialgeschichte ein differenzierteres Bild gezeichnet als lange Zeit üblich. Abgeschlossen ist dieser Reflexionsprozess jedoch noch lange nicht.
Exkurs: Verteilung von Nobelpreisträger*innen und Topuniversitäten nach Regionen
Nobelpreise nach Regionen
Diese Karte fasst die Nobelpreisträger*innen in Chemie, Physik sowie Medizin/Physiologie und die Träger*innen des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften Stand 2023 nach Herkunftsregionen zusammen. Den sogenannten Wirtschaftsnobelpreis stiftet seit 1968 die Schwedische Nationalbank. Insgesamt dominiert der sogenannte globale Norden deutlich. Zu geringe Diversität bei der Auswahl der Preisträger*innen ist ein Kritikpunkt, der zuletzt in Bezug auf die Traditionspreise angeführt wird, ob bei der Verteilung der Geschlechter – oder der regionalen wie ethnischen Herkunft.
Die Top 25-Universitäten
Dargestellt ist hier die Verteilung der Universitäten, die 2023 beim Academic Ranking of World Universities die ersten 25 Plätze belegten. Auch hier dominiert der globale Norden, einzig China hat eine Top 25-Uni. Das sogenannte Shanghai-Ranking zählt zu den bekanntesten internationalen Rankings und vergleicht etwa nach Publikationen, Zitationsraten und hochrangigen Auszeichnungen. Kritik gibt es besonders an der Glaubwürdigkeit und Methodik solcher Hochschulrankings. Dennoch gilt ihr Einfluss als groß, im internationalen Standortwettbewerb wie auch bei der Verteilung öffentlicher Forschungsgelder.