Deutschland im Blick

Gut Freund trotz Brexit

Die Briten verlassen die EU. Die Beziehungen zu Deutschland könnten hierdurch wichtiger werden. Dass man auf der Insel über die Deutschen besser denkt als früher, sollte dabei helfen.

  • vom 
  • Text: Lilo Berg
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Der Reimar Lüst-Preisträger  Professor Dr. Rüdiger Görner  lebt und arbeitet seit mehr als 35 Jahren in London. Er verfasste zahlreiche Bücher, darunter „Streifzüge durch die englische Literatur“ (1998), „Dover im Harz. Studien zu britisch-deutschen Kulturbeziehungen“ (2012) und „London, querstadtein. Vieldeutige Liebeserklärungen“ (2014). Er ist zudem Herausgeber des im Verlag de Gruyter erscheinenden Jahrbuchs für britisch-deutsche Kulturbeziehungen „Angermion“. 2012 wurde Görner mit dem Deutschen Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung ausgezeichnet.

Das German Network bringt in verschiedenen britischen Regionen Menschen zusammen, die sich für die deutsche Sprache sowie für Kultur und Wirtschaft der deutschsprachigen Länder interessieren. So bietet etwa das Greater London German Network (www.glgn.org.uk) neben einem reichhaltigen Veranstaltungskalender auch Sprachkurse an und dient darüber hinaus als Jobbörse. Getragen wird das German Network von der Deutschen Botschaft in London.

Das Großbritannien-Zentrum an der Humboldt-Universität zu Berlin und ähnliche Einrichtungen wie zum Beispiel an der Universität Bamberg widmen sich der interdisziplinären Forschung und Lehre. Zahlreiche weitere deutsche Hochschulen haben Studiengänge zur britischen Literatur- und Kulturwissenschaft (British Studies) im Programm.

Knappe Mehrheit für den Brexit: Deutschland hielt die Luft an, als diese Nachricht am Morgen des 24. Juni 2016 über alle Sender lief. Bis zuletzt hatte man Auguren geglaubt, die den Pro-Europäern beim EU-Mitgliedschaftsreferendum eine satte Mehrheit vorhergesagt hatten. Doch dann entschieden sich die Briten mit fast 52 Prozent für den Austritt. Die Shocking News beherrschten tagelang die Schlagzeilen. Verdaut hat Europa sie bis heute nicht.

Auch für Rüdiger Görner gibt es Tage, an denen er aufwacht und es nach wie vor nicht fassen kann. Der renommierte deutsche Literaturwissenschaftler lebt seit 1981 auf der Insel. Er kam als Student, arbeitete als Wissenschaftler, Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker und wurde Professor für Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik. An der Queen Mary University of London gründete er 2005 das Centre for Anglo-German Cultural Relations, das er bis heute leitet. Für seine wissenschaftlichen Leistungen und Verdienste um den Kulturaustausch zwischen Großbritannien und Deutschland erhielt er im Jahr 2015 den Reimar Lüst-Preis, den die Humboldt-Stiftung gemeinsam mit der Fritz Thyssen Stiftung vergibt. 

Eklatanter Mangel an Bildung

Das weltoffene, liberale Britannien, seine demokratische und kulturelle Tradition faszinieren Rüdiger Görner bis heute. Und doch beobachtet er seit Jahren Risse in der noblen Fassade: „Da sind vor allem der eklatante Mangel an politischer Bildung in der Bevölkerung, die Abkehr von der europäischen Idee und der gefährliche Traum, das Empire lasse sich wiederbeleben.“ Schuld am Brexit sei letztlich jedoch eine verantwortungslose Regierung, die nach einer mutwillig herbeigeführten Volksabstimmung deren Konsequenzen in keiner Weise gewachsen war. „Wir stehen vor einem politischen Scherbenhaufen“, sagt Görner, dessen Expertise dieser Tage europaweit gefragt ist.

Auch wenn inzwischen Millionen Briten eine neue Abstimmung fordern: Rückgängig machen lasse sich der Brexit nicht, davon ist Rüdiger Görner überzeugt. Er rechnet damit, dass die britische Regierung in wenigen Monaten den Austritt aus der Europäischen Union erklärt und die Verhandlungen dann ernsthaft beginnen. Parallel dazu seien Verträge mit aller Herren Länder vorzubereiten, um Regelungen aus Brüssel durch bilaterale Vereinbarungen zu ersetzen.

Schwergewicht Deutschland

„Deutschland wird dabei eine privilegierte Rolle spielen“, versichert Görner. Die starken Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern, das politische Gewicht Deutschlands, die mannigfachen kulturellen Verflechtungen – all das spreche eher für eine weitere Vertiefung des Verhältnisses. Abgezeichnet habe sich das schon in den Monaten vor dem Brexit: „Die üblichen Vorurteile gegenüber Deutschen wurden auffallend selten mobilisiert“, berichtet der Kulturwissenschaftler. Pickelhauben und Nazi-Vergleiche seien in den Medien kaum aufgetaucht und auch die Regierung habe sich rhetorische Spitzen gegen einen ihrer wichtigsten Partner verkniffen.

Humboldt Kosmos - das Magazin der Humboldt-Stiftung. Woran forschen die Humboldtianer*innen weltweit? Welche Themen aus Wissenschaft, Diplomatie und Internationalität bewegen uns? Hier gelangen Sie zu den neuesten Texten. 

Das passt zur veränderten Gefühlslage zwischen beiden Nationen. Jahrzehntelang konterten die Briten die unerschütterliche Anglophilie der Deutschen mit beinharter Germanophobie. Spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft von 2006 weiche die Ablehnung auf, sagt Rüdiger Görner: „Damals machten sich viele britische Fans auf den Weg und erlebten ein entspanntes, weltoffenes Deutschland.“ Hinzu komme der Berlin-Effekt, der alljährlich Tausende Briten in die hippe deutsche Hauptstadt ziehe, sowie die hervorragende Arbeit deutscher Kulturinstitutionen im Vereinigten Königreich: „Was etwa das Goethe-Institut, der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Deutsche Botschaft, namentlich ihre Kulturabteilung, in den letzten Jahrzehnten geschaffen haben, ist einmalig und jetzt bedeutsamer denn je.“

Der Dialog darf nicht abreißen

Kultur sei der Katalysator für alles Künftige zwischen Großbritannien und Deutschland, sagt Rüdiger Görner – bedeutsamer noch als Politik oder Wirtschaft. Er plädiert daher für eine noch stärkere Förderung entsprechender Aktivitäten: „Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass der Dialog zwischen den Trägern der Kulturvermittlung nicht abreißt.“ Wichtige Plattformen seien das frisch etablierte German Network auf britischer Seite und in Deutschland die universitären Großbritannien-Zentren und -Studiengänge sowie selbstverständlich das British Council (siehe rechte Spalte). Für sehr sinnvoll hält Görner gemeinsame Projekte in Bereichen wie vergleichende Medienforschung und Migrationsforschung. Dafür sollten seiner Ansicht nach künftig Sondermittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung mobilisiert werden.

Rüdiger Görner

Doch was ist, wenn die regulären EU-Fördermittel auslaufen, die in einigen britischen Forschungseinrichtungen immerhin 15 Prozent des Jahresbudgets stellen? Wird es dann zum großen Wissenschaftlerexodus kommen, zum Beispiel nach Deutschland? Zwar gebe es erste Absetzbewegungen von britischen Forschern in andere anglophone Regionen oder auch von deutschen Kollegen zurück in die alte Heimat, so Rüdiger Görner. Eine massenhafte Abwanderung kündige sich derzeit jedoch nicht an.

Er selbst will so lange wie möglich in London bleiben und weiter an der großen Kulturbrücke nach Deutschland bauen. Besonders viel verspricht er sich von Partnerschaften zwischen Städten und Regionen beider Länder: „Es gibt dichte Beziehungsgeflechte im Bereich der Kulturarbeit, die aber dringend neu belebt werden müssen.“ Einen guten Anlass biete beispielsweise das 70-jährige Jubiläum prominenter Städtepartnerschaften wie Frankfurt-Birmingham 2016 oder Hannover-Bristol 2017. An seinem Zentrum soll die Geschichte solcher Verbünde wissenschaftlich aufgearbeitet werden, berichtet Rüdiger Görner. Und in manchen Kommunen denke man bereits über jährliche binationale Konferenzen zu bestimmten Leitthemen nach. Die Freundschaft zwischen Briten und Deutschen zu festigen, ist offenbar vielen ein Anliegen – für den Tag, an dem der Brexit wahr wird.

vorheriger Artikel Kann Aloe Vera bei der Züchtung von Knochenzellen helfen, Frau Goonoo?
nächster Artikel „In fünf Minuten hat man eine Briefkastenfirma“