Schwerpunkt

Musterschüler mit Ausreißern

Ein Kommentar von Hans-Christian Pape

Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Professor Dr. Hans-Christian Pape ist Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung und leitet das Institut für Neurophysiologie der Universität Münster.

Hans-Christian Pape

Viele erinnern sich noch gut an ihre Schulzeit und das Ritual des Zeugnistags. Da saß man und blickte je nachdem frohgemut oder beklommen auf seine frisch ausgehändigten Noten. Meist bekam man ungefähr das, was man erwartet hatte. Manchmal gab es eine enttäuschende Fünf statt der erhofften Vier. Echte positive Überraschungen – eine Eins anstelle der erwarteten Drei – kamen selten vor.

Nachrichten aus der Stiftung 

Nun haben die von der Humboldt-Stiftung geförderten ausländischen Gastforscherinnen und Gastforscher Deutschland ein Zeugnis ausgestellt. Die Rückmeldungen der Umfrage „Deutschland von außen“ sind ein Grund zur Freude. Von der Wissenschaftsfreundlichkeit und der Forschungsinfrastruktur über Toleranz, Fortschrittlichkeit und Demokratie bis zur Gleichberechtigung der Geschlechter – die Noten sind alle sehr gut. Selbst der Humor, die Kinderbetreuung, ja sogar die Bahn werden gelobt. „Deutsche Bahn is the best in the world“, schreibt ein Stipendiat aus Indien.

Spätestens hier reibt sich der Leser erstaunt die Augen. Deutschland gleicht einem Musterschüler, der neben der berechtigten Eins in Mathematik auch gleich noch ein völlig unerwartetes Sehr gut in Sport bekommen hat. Des Rätsels Lösung ist die regionale Brille, durch die Deutschland betrachtet wird: Je nachdem aus welcher Weltregion die Forschenden stammen, erscheinen manche Dinge hierzulande nicht so negativ, wie sie aus der kritischen Binnensicht wirken. Das kann helfen, die eigene Perspektive geradezurücken.

Lob und Tadel müssen vor dem Hintergrund regionaler Erfahrungen und Erwartungen eingeordnet werden. Die Humboldt-Geförderten kommen buchstäblich aus aller Welt, aus über 140 Ländern. Sie beurteilen Deutschland vor allem im Vergleich zu ihrer Heimat. So erleben asiatische Humboldtianerinnen und Humboldtianer die Deutschen als ausgesprochen offen, Geförderten aus Südamerika dagegen erscheinen die Deutschen eher als reservierte Typen. Indische, chinesische oder amerikanische Stipendiaten schätzen die Betreuungsangebote für Kinder positiv ein, Australier oder Skandinavier weniger.

Diese Erkenntnisse können ein wertvoller Kompass sein für zielgruppengerechtes Forschungsmarketing, das im regionalen Vergleich besondere Stärken hervorhebt. Zugleich lässt sich erkennen, worauf besonders zu achten ist, damit sich Gäste aus bestimmten Ländern bei uns wohlfühlen.

Ganz unabhängig von der regionalen Erfahrung der Befragten werden der Forschungsinfrastruktur, der Forschungsförderung und allgemein der Wissenschaftsfreundlichkeit sehr gute Noten ausgestellt. Das gleiche gilt für die Internationalität, die auch dank der Exzellenzinitiative gestiegen ist. Das sollte uns Ansporn sein, diesen Weg konsequent weiter zu beschreiten. Aber es gibt auch Kritikpunkte, die von einer Mehrheit der Befragten ganz unabhängig von ihrer Herkunft angesprochen werden: vor allem die Bürokratie, Sprachbarrieren, die Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses und die soziale Einbindung im Alltag, gelegentlich auch die zu starre Hierarchie in der deutschen Forschung. Auch die vereinzelten, aber unüberhörbaren Rückmeldungen zu Erfahrungen von Ausländerfeindlichkeit stimmen besorgt. Das Erstarken rechtsextremer und populistischer Bewegungen bleibt unseren Gästen aus dem Ausland nicht verborgen.

Dieser Zeugnistag ist also mindestens ebenso ein Grund zur Freude wie zum Nachdenken. Wir dürfen froh sein über das viele Lob und die großen Stärken in der internationalen Standortkonkurrenz. Damit lässt sich werben! Doch die Kritik an Bürokratie und Nachwuchsperspektiven zeigen, wo der Musterschüler Deutschland dringend besser werden muss.

aus Humboldt Kosmos 110/2019

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