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Unsere Verwaltung ist gar nicht aufgeblasen

Jeder hat schon einmal über sie geflucht – dabei sind deutsche Behörden besser als ihr Ruf, finden die Verwaltungswissenschaftler Geert Bouckaert und Werner Jann. Ein Gespräch über freundliche Beamte und hartnäckige Stereotype.

  • Interview von Mareike Ilsemann
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Die Verwaltungswissenschaftler Professor Dr. Geert E. C. Bouckaert von der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien und Professor (em.) Dr. Werner Jann vom Potsdam Centrum für Politik und Public Management (PCPM) der Universität Potsdam leiten gemeinsam das Projekt „European Perspectives for Public Administration“ am PCPM. Es wird aus Mitteln des Anneliese Maier-Forschungspreises der Alexander von Humboldt-Stiftung finanziert, mit dem Bouckaert 2014 ausgezeichnet wurde. In dem Projekt geht es darum, eine gemeinsame europäische Perspektive auf den Prozess des ständigen Wandels der öffentlichen Verwaltungen Europas und seine Vermittlung in Forschung und Lehre zu entwickeln.

Herr Bouckaert, Herr Jann, warum schimpft eigentlich jeder auf die Bürokratie?
Jann:
Schwierige Frage. Das Problem fängt schon damit an, dass vollkommen unklar ist, was man eigentlich meint, wenn man über zu viel Bürokratie schimpft. Geht es um zu viele oder um „überflüssige“ Vorschriften? Dann stellt sich ja die Frage, was ist überflüssig? Und das wird von unterschiedlichen Bürgerinnen und Bürgern – zu Recht – durchaus unterschiedlich gesehen.

Nachrichten aus der Stiftung 

Beispielsweise?
Jann:
Als eine Landesregierung in Deutschland die Normen für Kindergärten lockern wollte, gab es einen Aufschrei der Eltern, die bestimmte Regelungen gerade nicht in das Ermessen der einzelnen Betreiber stellen wollten. Wenn die Bundesregierung die Honorarordnung für Architekten oder die Apothekerverordnung liberalisieren will, gibt es jedes Mal Proteste der betroffenen Berufsverbände. Die Zahl und der Eingriffsgrad von Gesetzen ist aber eine politische Frage, keine bürokratische. Hier wird also oft der „Sack“ Bürokratie geschlagen, aber eigentlich ist der „Esel“ staatliche Intervention gemeint.
Bouckaert: Eine ganz andere Kritik richtet sich gegen bürokratisches Verhalten, also unverständliche Sprache, unfreundliche Mitarbeiter, Unpersönlichkeit, Dogmatismus und undurchschaubare Prozesse. Diese Kritik ist oder war auf jeden Fall durchaus berechtigt, aber sie ist oft sehr stereotyp und entspricht nicht mehr der Wirklichkeit.

„Ich habe zwei Jahre in den USA gelebt und bin an der amerikanischen Bürokratie schier verzweifelt.“
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Warum?
Bouckaert: Überall in der Welt, und übrigens auch in Deutschland, gibt es mindestens seit Mitte der 1990er-Jahre einen erheblichen Modernisierungsschub, etwa durch die Einführung moderner Managementmethoden, durch das so genannte E-Government sowie neue Angebote wie Kundenzentren. Empirische Untersuchungen zeigen immer wieder, dass direkte Kontakte zwischen Bürgern beziehungsweise Unternehmen und Verwaltung in den weitaus meisten Fällen unproblematisch ablaufen. Das Stereotyp des unfreundlichen, langsamen und inflexiblen Verwaltungsmitarbeiters ist jedoch schwer auszurotten.

Woher kommt dann der Eindruck, einer bürokratischen, aufgeblasenen Verwaltung?
Jann: Erst einmal gibt es in Deutschland keine ernsthaften Hinweise auf eine „aufgeblasene“ Verwaltung. Wenn man sich öffentlich Beschäftigte als Anteil aller Beschäftigten anschaut, liegen wir unterhalb des OECD-Durchschnitts. Dies bedeutet nicht, dass es nicht gelegentlich mit weniger Personal ginge. Aber die Forderungen in der Öffentlichkeit gehen ja genau in die andere Richtung. Man fordert mehr Polizei, mehr Lehrer, mehr Richter – das ist alles öffentlicher Dienst, von dem gleichzeitig behauptet wird, er sei aufgebläht. Die deutsche Diskussion ist ehrlich gesagt gelegentlich etwas schizophren.

Also muss sich die Verwaltung gar nicht ändern, sondern braucht nur mehr Personal?
Bouckaert: Natürlich muss auch die Verwaltung kontinuierlich modernisiert werden – wie jede andere Organisation, die überleben will, auch. Aber gleichzeitig dürfen die Errungenschaften der klassischen Bürokratie Max Webers, also Berechenbarkeit, Fairness, Rechtssicherheit etc. nicht über Bord geworfen werden. Für diese Verschränkung und gemeinsame Entwicklung, die wir in vielen europäischen Ländern beobachten können, haben wir den Begriff „Neo-Weberianischer“ Staat geprägt. Er fasst den Konsens der modernen Verwaltungswissenschaft am besten zusammen.

Vor allem US-Amerikaner stören sich in unserer Befragung am deutschen System. Unterscheidet sich die US-Bürokratie wirklich so sehr von der europäischen?
Jann: Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass die deutsche Bürokratie schlimmer ist als die amerikanische. Ich habe zwei Jahre in den USA gelebt und bin an verschiedenen Facetten der amerikanischen Bürokratie schier verzweifelt. Das fängt an mit den Problemen, ein Bankkonto zu eröffnen, und setzt sich mit der Einwanderungsbehörde und den Visavorschriften fort. Gegenüber dem IRS (Internal Revenue Service), der amerikanischen Steuerbehörde, sind deutsche Finanzämter geradezu ein Ausbund von Kooperation und Freundlichkeit. Das Problem scheint mir zu sein, dass man seine eigene Bürokratie und ihre Macken kennt, aber die fremde dann noch einmal viel unzugänglicher erscheint.
Bouckaert: Ich kann das nur bestätigen. Sich mit der amerikanischen Bürokratie anzulegen, ist kein Zuckerschlecken. Die deutsche Bürokratie kenne ich seit vielen Jahren. Ja, sie hat ihre Macken, aber letztendlich kann man sich auf sie verlassen.

Professor Dr. Geert E. C. Bouckaert und Professor (em.) Dr. Werner Jann

aus Humboldt Kosmos 110/2019

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