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„Die Armen verdienen das Beste“

In der Agenda 2030 hat die Weltgemeinschaft hochwertige Bildung als ein zentrales Ziel globaler Nachhaltigkeit definiert. Doch dafür müssten nicht nur Zugänge zu Bildung gefördert, sondern vor allem das Selbstwertgefühl von Menschen durch lokale Angebote gestärkt werden, betonen die Soziologen Jessé Souza und Boike Rehbein.

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Als Fellow der Philipp Schwartz-Initiative forscht Jessé Souza an der Humboldt-Universität zu Berlin über Leiden im globalen Kapitalismus. In engem Austausch mit seinem Kollegen und Gastgeber, dem Berliner Soziologen und Globalisierungsforscher Boike Rehbein, geht er der Frage nach, wie sich sozioökonomische Strukturen und gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse gegenseitig bedingen. Doch die Erforschung der Lebenslagen ist den beiden Wissenschaftlern nicht genug. Sie wollen, gerade im Globalen Süden, Möglichkeiten der Teilhabe schaffen und den Menschen einen niedrigschwelligen und kostengünstigen Zugang zu hochwertiger Bildung bieten. Dafür haben sie eine Online-Schule für bedürftige Menschen gegründet. Das Modell wurde in Brasilien bereits erfolgreich implementiert. Jüngst fiel der Startschuss für eine weitere Schule in Indien.

Humboldt-Stiftung: Sie beide führen in Ihren Forschungen immer wieder Bildung als wichtigen Faktor von Ungleichheit an. Welche Rolle spielt sie konkret?
Boike Rehbein: Zunächst einmal müssen wir in Hinblick auf die Bildung zwei Aspekte unterscheiden: Ausbildung und Bildung. Die Ausbildung sehen wir in der ganzen Welt als maßgeblichen Faktor bei der Reproduktion von sozialer Ungleichheit. Menschen, die schon in einer benachteiligten Situation aufwachsen, haben meist nicht die Chance, einen höheren oder höherwertigen Bildungsabschluss zu erwerben. Fehlt dieser Abschluss, werden sie von den meisten privilegierten Positionen, Funktionen aber auch Tätigkeiten der Gesellschaft ausgeschlossen. Zum anderen sehen wir, dass gesellschaftliche Strukturen von Ungleichheit in der Bildung selbst nicht genug thematisiert werden. Wir lernen einzelne Faktoren über die Gesellschaft kennen, aber wie alles zusammenhängt, verstehen wir nicht. Beide Faktoren sind für uns von Bedeutung: ein besseres Verständnis der sozialen Welt und der Ausgleich der strukturellen Nachteile für bestimmte benachteiligte Bevölkerungsgruppen.

Jessé Souza: Um die strukturellen Probleme zu verstehen, ist es besonders wichtig, sich auch mit dem Verhältnis von Globalem Süden und Globalem Norden zu befassen. Aktuelle Ausbeutungsverhältnisse werden oft als Resultat einer vermeintlichen kulturellen und moralischen Überlegenheit des Globalen Nordens betrachtet, was wiederum die ökonomische Ausbeutung des Globalen Südens legitimiert und ermöglicht. Es gibt einen internen Zusammenhang von Armut und dem tief liegenden Rassismus, sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene, der dazu führt, dass Menschen abgehängt werden.

Zugleich sagen Sie, Ungleichheit habe nicht nur ökonomische Ursachen.
Rehbein: Es hat vor allem mit dem Selbstwertgefühl zu tun. Das Bild, das der Rest der Gesellschaft von den Unterschichten zeichnet, ist das des „Mülls“. Wir haben tausende Interviews geführt. Dieser Begriff tauchte immer wieder auf. Wir haben ihn in Gesprächen mit Obdachlosen in Deutschland gehört, aber eben auch in Brasilien. Er wird von den Menschen selbst übernommen. Sie internalisieren die Bewertung durch den Rest der Gesellschaft. Das ist der Hauptmarker der Unterprivilegierten. Sie trauen sich nicht zu, innerhalb der Gesellschaft eine bestimmte Funktion auszuführen oder als gleichwertig aufzutreten. Hier muss man ansetzen.

Das Instituto Conhecimento Liberta 

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Online-Institut zu gründen?
Souza: Wir haben immer wieder miteinander diskutiert und uns gefragt: Wie kann man die Befunde, die wir ermittelt haben, über den engen Raum der Wissenschaft hinaus zur Verfügung stellen? Wie kann man die Gesellschaftskritik zu den Menschen bringen, die es am meisten brauchen? Und dann haben wir uns Unterstützung gesucht – vor Ort. In Brasilien ist die Schule bereits erfolgreich und jetzt werden wir die Idee in Indien umsetzen.

Wie haben Sie die Schule aufgebaut? Wer ist vor Ort beteiligt?
Souza: In Brasilien helfen uns die sozialen Bewegungen, vor allem die Landlosen, aber auch die schwarzen und die katholischen Initiativen. Nach einem Jahr haben wir mehr als 30.000 Studierende. Diejenigen, die es sich leisten können, bezahlen ungefähr acht Euro im Monat. In Indien beträgt die Gebühr einen Euro. Dafür bekommen die Studierenden die besten Köpfe des Landes – auch international – aus den Bereichen Politik-, Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften. Die Menschen erhalten eine neue Interpretation der gesellschaftlichen Lage in Brasilien, die sonst nicht geboten wird. Gleichzeitig können sie sogenannte „hard skills“ erwerben. Sie lernen Fremdsprachen und können an professionellen Kursen teilnehmen, die sie für den Job besser wappnen. Für diejenigen, die nicht bezahlen können, vergeben wir Stipendien – finanziert von den sozialen Bewegungen vor Ort. Die Armen verdienen das Beste.

Wie funktioniert die Schule konkret?
Souza: Die Kurse finden online statt. Das ist kostengünstiger und wir können uns auf die Vermittlung der Kenntnisse konzentrieren. Dafür investieren wir in die Produktion von Web-Dokumentation, die wiederum von den Gemeinschaften – von den Menschen selbst – kreiert werden. Wir stellen Material zur Verfügung, damit sich die Menschen autonom organisieren. Sie sollen keine passiven Lernenden sein.

Aber nicht jede*r hat einen Computer. Wie niedrigschwellig können Menschen partizipieren?
Souza: Wir unterstützen auch vor Ort. Im Rahmen eines Forschungsprojekts in den Favelas stellen wir einen Raum mit Computern und kostenloses Internet zur Verfügung. Zugleich hat in Brasilien fast jeder Mensch ein Handy. Auch die ganz arme Bevölkerung.

Rehbein: In Indien fangen wir gleich mit einer App an. Man kann tatsächlich überhaupt nicht davon ausgehen, dass die Menschen alle Computer besitzen. Wir haben Teams in Brasilien und Indien, die uns in Hinblick auf die IT-Infrastruktur beraten und unterstützen. Wir versuchen auch, Trainings zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, der Fokussierung oder des Selbstbewusstseins anzubieten, die von geschulten Sozialpsycholog*innen durchgeführt werden.

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Nicht zuletzt durch die Unterstützung der Humboldt-Stiftung führen die beiden Forschenden ein seit 15 Jahren andauerndes und bereicherndes Gespräch über soziale Ungleichheit und die sozioökonomischen Verflechtungen zwischen Globalem Norden und Globalem Süden. 2014 haben sie zusammen das Buch „Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften“ (2014) veröffentlicht.

Was hat Sie in all der Zeit motiviert, dranzubleiben?
Souza: Ohne die Humboldt-Stiftung wäre es nicht möglich gewesen, die Arbeit so kontinuierlich voranzutreiben. Und der Fall Brasilien hat uns gezeigt, dass es funktionieren kann. Ob die Schule zur Veränderung der politischen Lage beitragen kann, wird man sehen. Aber wir müssen die Menschen auf die strukturellen Probleme aufmerksam machen, sie für Ungleichheit sensibilisieren und zugleich ihre Kompetenzen stärken. Ich glaube, das ist die wichtigste Herausforderung: eine kritische soziale Wissenschaft für heute zu schaffen, die global denkt. Mit Solidarität und Menschenliebe – die eben auch zur Wissenschaft gehören.

Porträtfotos von Boike Rehbein und Jesse Souza
Boike Rehbein und Jessé Souza

Boike Rehbein studierte Philosophie, Soziologie und Geschichte in Freiburg im Breisgau, Paris, Frankfurt am Main, Göttingen und Berlin. Er war Direktor des „Global Studies Programme“ der Universität Freiburg bevor er an die Humboldt-Universität zu Berlin wechselte. Dort ist er Professor für Gesellschaft und Transformation in Asien und Afrika. Er befasst sich mit den Theorien und Auswirkungen der Globalisierung mit dem Schwerpunkt Südostasien. Boike Rehbein ist einer der führenden Experten für Laos und für die Soziologie Pierre Bourdieus.

Jessé Souza studierte Jura und Soziologie an der Universität Brasília und promovierte im Fach Soziologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er absolvierte ein Postdoc-Studium in Philosophie und Psychoanalyse an der New School for Social Research in New York und habilitierte im Fach Soziologie an der Universität Flensburg. Souza war Professor an der Bundesuniversität von Juiz de Fora in Brasilien und Leiter des dortigen Ungleichheitsforschungszentrums. 2019 trat er eine Gastprofessur an der Pariser Universität Sorbonne an. Jessé Souza war Humboldt-Forschungsstipendiat und ist derzeit Fellow der Philipp Schwartz-Initiative an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit sowie Klassen- und Sozialtheorie. Er ist einer der bekanntesten Soziologen Brasiliens.

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