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„Ein Rückschritt für die Demokratie“: Humboldtianer zur Justizreform in Israel

Israel steht vor einer Justizreform, die den Lauf der Demokratie verändern könnte. Zehntausende gehen derzeit auf die Straße, um gegen die umstrittenen Pläne der Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu zu demonstrieren. Der Politikwissenschaftler und ehemalige Forschungsstipendiat der Humboldt-Stiftung Or Tuttnauer spricht über die politische Krise in seinem Land.

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Or Tuttnauer
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Nach der Ankündigung einer Justizreform, die schwerwiegende Auswirkungen auf das Justizsystem des Landes haben und zu einer Ausweitung der Macht der derzeitigen Rechtsregierung führen könnte, steht Israels Premierminister Benjamin Netanjahu unter enormem gesellschaftlichem Druck. Ganz Israel erlebt Massenproteste und großflächige Streiks, die den wichtigsten Flughafen des Landes lahmgelegt und Arbeitsniederlegungen in der Industrie ausgelöst haben. Jetzt hat Netanjahu die Aufschiebung der Reform verkündet. Wird dies letztendlich etwas an der Situation ändern? Wir haben den Politikwissenschaftler und ehemaligen Forschungsstipendiaten der Humboldt-Stiftung Or Tuttnauer, dessen Forschungsschwerpunkt Trade-offs zwischen Konflikt und Kooperation in Regierungssystemen sind, um seine Einschätzung der Lage in Israel gebeten.

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Or Tuttnauer

ist MZES Postdoc Fellow am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim. Er wurde 2018 an der Hebräischen Universität Jerusalem promoviert. Von 2018 bis 2023 war er Gastwissenschaftler in Mannheim und von 2020 bis 2023 Postdoc-Forschungsstipendiat der Humboldt-Stiftung. Sein Forschungsgebiet umfasst Parlamente, parlamentarisches Verhalten, Wahlverhalten und politische Parteien. Er untersucht speziell das Verhalten von Oppositionsparteien und die Beziehungen zwischen ihrer parlamentarischen Tätigkeit und der Wahlarena.

Humboldt-Stiftung: Zehntausende gehen derzeit auf die Straße, um gegen die umstrittene Justizreform in Israel zu protestieren – was sind die wichtigsten Bedenken der Öffentlichkeit?
Or Tuttnauer: Man könnte es so sagen: Es gibt unmittelbare Bedenken bezüglich der „Reform“ an sich und weiter gefasste Bedenken bezüglich ihres Kontexts. Die Reform selbst würde es der Regierung ermöglichen, die Ernennung von Richter*innen alleine zu kontrollieren. Und sie würde die Möglichkeiten des obersten Gerichts (sowie der juristischen Regierungsmitarbeiter*innen) einschränken, die Rechtmäßigkeit neuer Gesetze und staatlichen Handelns zu prüfen. In Israel, das keine Verfassung, keine Bill of Rights und auch keine zusätzlichen legislativen Kammern hat, wird damit eine der wenigen noch existierenden Überprüfungsmöglichkeiten der Exekutive aufgehoben. Diese „Reform“ ist offensichtlich Teil einer gezielten Untergrabung der Demokratie: „Kaperung“ der Justiz, dann Begrenzung der Opposition und Verzerrung der Wahl-Spielregeln zugunsten der regierenden Partei(en). Wir konnten dies bereits in Ungarn, Polen, der Türkei und Venezuela beobachten.

Was bedeutet die Justizreform für die Demokratie und das politische System in Israel? Was wäre für Sie persönlich das schlimmste Szenario? 
Im Worst-Case-Szenario erlangt die Regierung die vollständige Kontrolle, die Rechtsstaatlichkeit ist effektiv zunichte gemacht und Israel ist nicht länger eine Demokratie. Doch das wäre erst der Anfang. Wenn die Reform zustande kommt, wird Israel nicht nur unfreier, sondern auch ärmer. Der liberale Sektor, der Hauptmotor des wirtschaftlichen Erfolgs der letzten Jahrzehnte, dessen Angehörige nicht nur ein großer Teil der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Elite, sondern auch des Militärs sind, wird schrumpfen. Eine Zunahme der Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen ist wahrscheinlich. Nun wurde die Reform verschoben – nicht zuletzt aufgrund der großen öffentlichen Entrüstung. Der Hauptteil könnte jedoch jederzeit erneut auf den Tisch kommen und innerhalb eines Tages verabschiedet werden. Die Opposition und die Protestierenden müssen also wachsam bleiben.

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Das Humboldt-Forschungsstipendium

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Wenn wir die verschiedenen Positionen innerhalb der Koalition von Netanjahu betrachten, welche Trade-offs gab es zwischen den Ultranationalisten und dem Likud und was sind Ihrer Ansicht nach die möglichen Folgen der Krise?
Die verschiedenen Parteien möchten jeweils aus unterschiedlichen Gründen die Justiz schwächen. Die extreme Rechte möchte die Kontrolle Israels über die besetzten Gebiete ausweiten und die jüdische Vormachtstellung innerhalb der Grenzen Israels stärken, ohne an vom obersten Gericht bestätigte Rechtsnormen gebunden zu sein. Die ultraorthodoxen Parteien möchten Vorteile für ihre Wähler*innen erwirken, ohne den Gleichheitsgrundsätzen zu unterliegen. Netanjahu möchte an der Macht bleiben, auch wenn er vor Gericht steht und möglicherweise auch verurteilt wird. Um die Zustimmung der Ultranationalisten zu der Verschiebung zu erhalten, willigte Netanjahu ein, eine Art Miliz zu finanzieren, die dem Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir untersteht. Angesichts der Tatsache, dass Ben-Gvir für die jüdische Vormachtstellung agierende Terroristen unterstützt, ist dies keine gute Nachricht. Die Konflikte, die innerhalb der Koalition auftraten, scheinen sich um die Taktiken der Reform, nicht um ihre Substanz zu drehen. 

Denken Sie, dass sich die Justizreform auch auf die Freiheit der Wissenschaft auswirkt? Wie könnten die möglichen Folgen für die wissenschaftliche Forschung und Infrastruktur aussehen?
Likud-Abgeordnete und Aktivist*innen greifen Wissenschaftler*innen schon seit Langem als abgehobene und verräterische Eliten an. In den letzten Jahren gab es (auch erfolgreiche) Versuche, regierungskritische Stimmen in den Medien und im Bildungssystem zu unterdrücken. Eine NGO, die als Watchdog für die Wissenschaft fungierte, wurde vom Likud umfassend gestützt und unterstützt. Alle diese Trends weisen darauf hin, dass in Zukunft mit weiteren Schlägen gegen die Wissenschaft, in erster Linie gegen die Gesellschaftswissenschaften, zu rechnen ist.

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