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Eine andere Welt ist möglich

Die Humboldt-Alumnae Leila Papoli-Yazdi und Maryam Dezhamkhooy graben tief in der Vergangenheit ihres Landes. Im Interview erzählen die beiden Archäologinnen, wie sich die Gesellschaft in Iran vom vormodernen Staat mit toleranten Vorstellungen von Geschlechternormen und Sexualität veränderte und warum Genderarchäologie die Gegenwart bereichern kann.

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Blick auf Arg-e Bam - Bam Zitadelle, in der Nähe der Stadt Kerman, wiederaufgebaut nach dem Erdbeben in Iran
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Humboldt-Stiftung: Frau Papoli-Yazdi, Frau Dezhamkhooy, in Ihrem kürzlich erschienen Buch „Homogenization, Gender and Everyday Life in Pre- and Trans-modern Iran“, das mit Unterstützung der Humboldt-Stiftung veröffentlicht wurde, präsentieren Sie eine neue Lesart der iranischen Vergangenheit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Was macht diese neue Lesart aus?
Maryam Dezhamkhooy: Geschichte wurde lange ausschließlich von Männern für Männer geschrieben. Unsere Forschungsgruppe, GAP END, die aus Frauen und Männern besteht, wollte die Prämoderne unseres Landes auf andere Weise erzählen, nämlich mit einem Fokus auf das Alltagsleben ganz gewöhnlicher Bürger*innen, Frauen, Homosexueller und non-binärer Menschen.

Leila Papoli-Yazdi: In unserer Arbeit, die sich unter anderem auf mehr als 300 Interviews, auf Textzeugnisse, Alltagsgegenstände, Statistiken und mündliche Überlieferungen stützt, geht es zudem insbesondere um den Aufstieg des modernen Staates Iran und um die Prozesse, welche die Diskriminierung in der Gesellschaft beschleunigten. Und es geht um die übersehenen und vergessenen Erzählungen ganz gewöhnlicher Menschen. Ihre Geschichten wollen wir sichtbar machen. Dass sich die traditionelle Archäologie vor allem für die Oberschicht einer Gesellschaft interessiert, ist eine große Schwäche.

In welcher Hinsicht?
Papoli-Yazdi: Wenn wir eine Epoche rekonstruieren, können wir dies nicht tun, ohne die Geschichten, ganz gewöhnlicher Menschen in all ihrer Diversität einzubeziehen. Unser Ansatz, das Alltagsleben dieser Leute zu erforschen, soll allen Menschen vermitteln, dass jede*r ein wichtiger Teil der Geschichte ist.

Was hat Sie im Kontext Ihrer Arbeit besonders überrascht?
Dezhamkhooy: Für mich gab es in jedem Kapitel neue Beweise, die mich überraschten. So konnten wir erstmals nachweisen, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen im vormodernen Iran, also im 19. Jahrhundert, insbesondere zwischen Männern, aber auch zwischen Frauen üblich waren. Im heutigen Iran ist Homosexualität illegal, steht unter Todesstrafe und Aktivist*innen müssen für die Rechte homosexueller Menschen kämpfen. Dieser historische Kontrast war ein regelrechter Schock für uns. Zudem konnten wir zeigen, dass Frauen Wassersysteme verwalteten. In Iran eine bedeutende Aufgabe, denn vor allem der Osten des Landes war schon immer von Wasserknappheit betroffen. Eine Erkenntnis, mit der wir nicht gerechnet hatten und die uns mit unserem eigenen stereotypen Denken konfrontierte.

Welche Stereotype meinen Sie?
Dezhamkhooy: Ich meine die in westlichen Theorien bestehende Vorannahme, dass Frauen in islamisch geprägten Gesellschaften seit jeher unterdrückt werden. Unsere Forschung über das Alltagsleben zeigte uns, dass die Gesellschaft und das Sozialleben der Menschen im 19. Jahrhundert ganz anders waren als angenommen und absolut nicht zu den verbreiteten Klischees passten. Die Toleranz der Gesellschaft zu dieser Zeit hat mich sehr beeindruckt. Der wissenschaftliche Fokus auf den Alltag hat uns definitiv neue Perspektiven in unserer Analyse aufgezeigt, auch in Bezug auf das Thema Gender.

Maryam Dezhamkhooy und Leila Papoli-Yazdi 2012, Neshat Garden, Neyshabour, Iran
Die Archäologinnen Maryam Dezhamkhooy und Leila Papoli-Yazdi

War die Genderarchäologie schon immer Ihr Forschungsschwerpunkt?
Dezhamkhooy: Ich bin in einem weltoffenen Elternhaus aufgewachsen und
verstand erst durch meine wissenschaftliche Arbeit, dass die Situation in meinem Land nicht immer so war, wie sie heute ist. Leila und ich lernten uns 2003 im Rahmen eines Ethnoarchäologieprojekts kennen, das wir kurz nach dem Erdbeben in Bam durchführten. Dort entdeckten wir unter anderem im Haus einer reichen Familie das Tagebuch eines trans Kindes. Die Arbeit in Bam rückte die Themen Gender und Diskriminierung in den Fokus meiner Forschung.

Papoli-Yazdi: Auch für mich war das Projekt in Bam ausschlaggebend. Als unsere Forschungsgruppe dort ankam, war unsere erste Frage: ‚Was können wir für die Menschen vor Ort tun?‘ Durch den Fokus auf das Thema Gender konnten wir unsere Forschungsdisziplin funktionaler machen, mit einem direkten Bezug zur Gegenwart.

Wie meinen Sie das?
Dezhamkhooy: Indem wir Genderthemen durch unsere Forschung beleuchten und sie in einen historischen Kontext setzen, können wir eine Diskussion über Diversität anstoßen. Wir zeigen, dass Geschlechterbinarität und die Diskriminierung von LGBTQIA+-Menschen nicht immer existierten. Unsere Forschungsergebnisse und der Blick in die Vergangenheit verdeutlichen, dass eine andere Welt möglich ist.

Papoli-Yazdi: Es ist wichtig, immer wieder auf Genderthemen aufmerksam zu machen. Sogar in Ländern wie Island ist Gleichberechtigung nicht zu 100 Prozent vorhanden. Mich besorgt, dass Menschen in Europa offenbar das Gefühl haben, ihre Rechte seien sicher. Sie scheinen zudem die Motivation verloren haben, diese Rechte zu bewahren, die andere in der Vergangenheit hart erkämpften. Wenn wir diese Rechte nicht schützen, werden wir sie verlieren. Ähnlich wie der Klimawandel sind auch das Thema Gender und die damit verknüpften Diskriminierungen nicht länderspezifisch. Das, was etwa Frauen in Afghanistan passiert, kann auch in jedem anderen Land der Welt geschehen. Dafür sollten wir auch die Debatten in der akademischen Welt öffnen.

Welchen Raum hat Genderarchäologie in der akademischen Welt Irans?
Papoli-Yazdi: Die Archäologie in Iran ist grundsätzlich sehr konservativ ausgerichtet. Als wir unsere Arbeit Anfang der 2000er-Jahre begannen, waren jedoch die Forschungsbedingungen an der Universität in Teheran etwas besser als heute. Es gab männliche Professoren, die uns und andere Frauen förderten. Der akademische Austausch fand in privat organisierten Diskussionsrunden statt, an denen auch viele Männer teilnahmen, die sich für Genderthemen interessierten. Als 2009 Ahmadinejad an die Macht kam, verloren wir und andere Fachkolleg*innen nach und nach unsere Jobs. Bis heute ist es sehr schwer in Iran zu diesen Themen zu arbeiten. Aber wir tun unser Bestes und versuchen weiterzumachen.

Frau Papoli-Yazdi, Sie kamen 2012 mit einem Georg Forster-Forschungsstipendium der Humboldt-Stiftung nach Deutschland und Sie, Frau Dezhamkhooy, 2016 . Was waren die wichtigsten Erfahrungen für Sie?
Papoli Yazdi: In Berlin war es am wichtigsten für mich, dass ich Zugang zu Bibliotheken hatte, an Konferenzen teilnehmen und Kontakte knüpfen konnte.
Was mir das Leben im Ausland jedoch vor allem brachte, war eine andere Perspektive auf meine Geschichte. Ich befasste mich mit Kolonialismus, Postkolonialismus und dem Totalitarismus und fand darin Teile meines eigenen Lebens und dem meiner Landsleute wieder.

Dezhamkhooy: Genau wie Leila konnte ich im Ausland meine Welt erweitern. Sie hat mir die Humboldt-Stiftung auch empfohlen, da sie sich dort bereits für ein Stipendium in Deutschland beworben hatte. Im Vergleich zu anderen Stiftungen beindruckte mich vor allem, dass auch die Rolle, die Forscherinnen in Familien oder als Mütter haben, mitgedacht und besonders unterstützt wird. Denn keine Frau sollte ihre Karriere aufgrund der Familie aufgeben müssen. Bevor ich 2016 nach Heidelberg kam, arbeitete ich an einer sehr konservativen Universität in Iran. Dort ging es für mich nicht weiter und ich bewarb mich für ein Postdoc-Stipendium der Humboldt-Stiftung. Das war ein Wendepunkt in meiner akademischen Karriere. Auch wenn die Archäologie in Deutschland eher konservativ ausgerichtet ist, bin ich als Wissenschaftlerin frei und mein Geschlecht spielt auf persönlicher Ebene keine Rolle. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass es auf struktureller Ebene auch in der deutschen Wissenschaft Ungleichheit und Diskriminierung gibt, etwa dass sehr viele Menschen in hohen akademischen Positionen noch immer Männer sind.

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Leila Papoli-Yazdi

Dr. Leila Papoli-Yazdi studierte Archäologie der jüngeren Vergangenheit an der Universität Teheran und promovierte 2008. Sie leitete ein Projekt in der iranischen Stadt Bam, die durch ein Erdbeben stark zerstört wurde, welches heute als bahnbrechend gilt. Darüber hinaus leitete sie mehrere Forschungsprojekte in Pakistan, Kuwait und in Iran. 2012 ging sie als Georg Forster-Stipendiatin ans Institut für Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin, wo sie im Wintersemester 2014/15 die internationale Gastprofessur für Geschlechterforschung übernahm. Anschließend war sie an der Universität Göteborg tätig. Seit 2021 ist sie Teil des UNESCO-Lehrstuhls für die Zukunft des Kulturerbes an der Linnaeus-Universität im schwedischen Kalmar.

Leila Papoli-Yazdi

Am 11. Februar wird weltweit an die wichtige Rolle von Mädchen und Frauen in Wissenschaft und Technologie erinnert. Was würden Sie diesen auf ihrem Weg in die Wissenschaft gern mitgeben?
Papoli Yazdi: Meine allererste Empfehlung ist, sich zu einer Gruppe von drei bis sechs Menschen zusammenzuschließen. Zusammen ist man stärker als allein und kann Herausforderungen besser bewältigen. Meine zweite Empfehlung: Sei dir immer im Klaren darüber, dass deine Stimme in der Wissenschaft gewollt und wichtig ist. Manchmal trifft man auf Menschen, die einen glauben lassen wollen, die eigene Arbeit sei angeblich nichts wert, weil sich irgendwann einmal schon jemand anderes dazu Gedanken gemacht hat. Das ist nicht wahr, denn junge Wissenschaftler*innen können diese Arbeiten erneuern und ihre eigene Sicht hinzufügen. Ihre Stimmen sind wichtig.

Welche Rolle können Förderorganisationen wie die Humboldt-Stiftung spielen, um Mädchen und Frauen in der Wissenschaft zu stärken?

Dezhamkhooy: Vor allem zu Beginn einer weiblichen Wissenschaftskarriere ist die Unterstützung von Stiftungen, die eine Genderpolitik verfolgen, sehr bedeutsam. Die Humboldt-Stiftung hat das Thema Chancengleichheit bereits im Blick und zahlt im Rahmen einer Förderung etwa Familienzuschüsse für Forscher*innen im Ausland und Kinderzulagen für Alleinerziehende. Das ist sehr wichtig, denn die Angst, durch eine Schwangerschaft die wissenschaftliche Karriere aufgeben zu müssen, ist nach wie vor groß.

Papoli-Yazdi: Wenn Wissenschaftlerinnen Förderungen erhalten, sollte das gesamte Paket akzeptiert werden. Als mein Sohn zur Welt kam, nahm ich ihn überall hin mit, oft begleitet von einem Schamgefühl. Das konnte ich zum ersten Mal bei einem Meeting mit dem damaligen Museumsdirektor in Peshawar loslassen. Als er hörte, dass mein Sohn in der Kindertagesstätte war, ließ er ihn zu mir bringen. Ich fühlte mich sehr unterstützt. Wir sollten so akzeptiert werden, wie wir sind, ganz ohne unterschwellige Erwartungen.

Welche Erwartungen meinen Sie?

Papoli-Yazdi: Ich meine Erwartungen, die es auf struktureller Ebene an Frauen gibt. Nämlich, dass Wissenschaftlerinnen entweder besser keine Kinder bekommen oder ihre Mutterrolle dem Beruf unterordnen sollten. Auch was die Auswahl von Forschungsthemen in der Wissenschaft betrifft, gibt es viele unausgesprochene Anforderungen.

Dezhamkhooy: Mein Eindruck ist, dass Themen wie Totalitarismus oder Rassismus noch immer eher Männern zugeordnet zu werden. Leila und ich planen ein Projekt zum Thema „Müll“. Würde man Menschen in der  akademischen Welt fragen, würden vermutlich viele sagen, das sei kein gewöhnliches Thema für Frauen. Davon lassen wir uns aber nicht abhalten.

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Maryam Dezhamkhooy

Dr. Maryam Dezhamkhooy studierte historische Archäologie an der Universität Teheran und promovierte 2011. Genau wie Leila Papoli-Yazdi war sie Teil des Forschungsprojekts in Bam. 2016 kam Maryam Dezhamkhooy als Georg Forster-Stipendiatin an die Universität in Heidelberg. Im Anschluss forschte sie am Institut für Ethnologie der Goethe Universität Frankfurt. Sie war Assistenzprofessorin für Archäologie an der Universität von Birjand, Iran, und forscht derzeit am Käthe Hamburger Zentrum für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien zu den Begriffen Nation, Staatsbürgerschaft und Frauenbewegung im Iran der jüngsten Vergangenheit.

Maryam Dezhamkhooy

Worum wird es bei diesem Projekt gehen?
Papoli Yazdi: Weltweit gibt es immer größere Müllberge und Menschen, die sich dort seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ansiedeln. Diese Gemeinschaften wollen wir aus archäologischer Sicht betrachten. Welche Marginalisierung erfahren sie, welche Genderregeln bestehen, wie beeinflusst sie die Klimakrise? Wir hoffen, dass unsere Arbeit unterstützt wird und wir in naher Zukunft mit ersten Untersuchungen beginnen können.

Was hoffen Sie für die Zukunft Ihrer Forschungsdisziplin außerdem?
Dezhamkhooy: Wir brauchen wesentlich mehr Beteiligung von männlichen Kollegen und Menschen aus der LGBTQIA+-Community. Momentan  ist die Genderarchäologie weiblich dominiert, das ist nicht gut für unsere Forschungsdisziplin, da auf diese Weise viele Aspekte unerforscht bleiben – und es ist nicht gut für unsere Zukunft insgesamt. Genderdiskriminierung betrifft Frauen, Männer, non-binäre Menschen und ihre Familien. Wenn wir die Situation weltweit ändern wollen, muss jede*r etwas beitragen.

Autorin: Esther Sambale

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