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„Wir schämen uns und empfinden großen Schmerz“

Russischer Vertrauenswissenschaftler der Stiftung über Angriff auf die Ukraine.

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6.000 russische Wissenschaftler*innen und Wissenschaftsjournalist*innen haben einen Protestbrief gegen den Krieg in der Ukraine unterzeichnet. Darunter auch der Vertrauenswissenschaftler der Humboldt-Stiftung in Moskau, der Astrophysiker Yuri Kovalev. Hier spricht er über seine Beweggründe und sagt, was er von Sanktionen gegen Russland in der Wissenschaft hält.

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Offener Brief gegen den Krieg in der Ukraine (Artikel auf englisch)

Sie waren einer der ersten Wissenschaftler, die einen offenen Brief gegen den Krieg mit der Ukraine unterzeichnet haben. Anscheinend mussten Sie nicht lange darüber nachdenken?
Wie es in unserem Brief heißt: Dieser Krieg führt zu enormen menschlichen Verlusten und untergräbt die Grundlagen der internationalen Sicherheit. Die Ukraine ist unser Nachbar und ein Land, das uns nahesteht. Viele von uns haben dort Verwandte, Freund*innen oder Kolleg*innen in der Wissenschaft. Unsere Länder haben gemeinsam gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Diesen Krieg als einen Akt der Entnazifizierung zu bezeichnen, ist ein Verrat an der Geschichte. Sie haben also recht. Ich musste nicht lange darüber nachdenken. Auch wegen meiner persönlichen Geschichte.

Inwiefern?
Meine Familie ist zur Hälfte jüdisch. Mitglieder meiner Familie wurden während des Zweiten Weltkriegs in Belarus ermordet. Meine Großmutter hat mir vom Krieg erzählt, bevor sie starb. In den letzten Wochen ihres Lebens hatte sie die Orientierung verloren und meinte, wieder in Kriegszeiten zu leben. Sie machte sich Sorgen um ihren kleinen Sohn und fürchtete, dass Menschen kommen und ihr Haus plündern würden. Ich konnte ihren Schmerz fühlen, spürte den Krieg wie sie. Und ich kann einfach nicht akzeptieren, dass so etwas noch einmal passiert. Nun ist es mein Land, von dem Krieg ausgeht. Damit kann ich nicht leben. Ich glaube, dass die Mehrheit der Menschen, die den Krieg unterstützen, von einer effektiven Propaganda beeinflusst sind. Und glauben Sie mir, sie ist sehr effektiv.

Müssen Sie mit persönlichen Konsequenzen rechnen, weil Sie das Schreiben unterzeichnet haben?
Das werden wir noch sehen. Offensichtlich werden alle Namen von speziellen Behörden überprüft. Bis jetzt hat nur meine Frau zu Hause Besuch von der Polizei bekommen, und zwar an dem Tag, an dem wir beide das Schreiben unterzeichnet hatten. Sie rieten ihr eindrücklich, sich gut zu benehmen, nicht an illegalen Treffen teilzunehmen und so weiter. Ich denke, viele Menschen halten es für wichtiger, diese Art von Brief zu unterschreiben, als sich über mögliche Konsequenzen Gedanken zu machen. Wir schämen uns sehr und empfinden großen Schmerz. Ich denke, zu unterzeichnen ist das Mindeste, was wir tun können.

Als Reaktion auf den Angriff auf die Ukraine diskutieren deutsche Forschungseinrichtungen darüber, die akademische Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland einzustellen, beziehungsweise haben dies bereits getan. Zudem sollen auch Forschungskooperationen eingefroren werden…
...was eine falsche Entscheidung ist. Wissenschaft und Kultur sind die letzten Mittel, die uns zur Verständigung zwischen den Ländern bleiben. Wir sollten diese Brücken nicht einreißen. Ich war absolut schockiert, als ich hörte, dass Kolleg*innen aus Deutschland nicht nur aufgefordert wurden, alle wissenschaftlichen Projekte mit Russ*innen einzustellen, sondern auch vom E-Mail-Austausch mit Forscher*innen aus Russland abzusehen. Offenbar beginnen einige Fachzeitschriften, wissenschaftliche Arbeiten von russischen Autor*innen abzulehnen. Ernsthaft? In meinem Fachgebiet, der Astronomie, pflegen wir enge und fruchtbare Kooperationen und teilen Infrastruktur wie Weltraumobservatorien mit Kolleg*innen in Deutschland und vielen anderen internationalen Partnern. Sollen wir das alles aufgeben? Deutschland hat das Röntgenteleskop eRosita an Bord des russischen Observatoriums SRG abgeschaltet. Na, das hilft” bestimmt!  Ich bin sehr dankbar für die positiven Botschaften vieler Kolleg*innen aus dem Ausland, die ihren Glauben an die Bedeutung unserer weiteren Zusammenarbeit zum Ausdruck bringen. Wir sind eine große internationale Familie in der Wissenschaft. Das sollten wir in diesen dunklen Zeiten nicht vergessen. Und das werden wir auch nicht.

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