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Gemeinsame Geschichte

Der argentinische Historiker Walter Ludovico Koppmann forscht am Lateinamerika-Institut in Berlin zur jüdischen Arbeiterklasse in Buenos Aires. Eine Geschichte mit Bezug zur Gegenwart und zu seinen eigenen Wurzeln.

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Potrait von Walter Ludovico Koppmann
Der argentinische Historiker und Humboldtianer Walter Ludovico Koppmann

Eines hat der argentinische Historiker Walter Ludovico Koppmann von der Universität Buenos Aires neben seiner Forschung fast täglich im Blick: das leuchtend gelbe Gebäude der Philharmonie, die er nach Feierabend oft besucht. Es erinnert ihn an seine Großmutter, die bis zu ihrem 92. Lebensjahr Konzertpianistin war. „Solange ich meinen Laptop und einen Becher Mate vor mir habe, kann ich überall arbeiten. Besonders gern bin ich in der Staatsbibliothek – zwischen all den Büchern, den Studierenden und mit dem Blick auf diese besondere Stadt.“ Seit September 2022 forscht Koppmann als Georg Forster-Stipendiat bei Professor Stefan Rinke in der Abteilung Geschichte des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin.

Saturn-ähnliches Dekortationsbild

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Jüdische Geschichte bewahren

Sein Thema: Die Entstehung der jüdischen Arbeiterklasse, der Arbeitswelten und der linken politischen Kulturen im Buenos Aires des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Dort lebte um 1914 die größte jüdische Gemeinde Lateinamerikas. Viele der Jüdinnen und Juden waren aus Russland geflohen, wurden in Argentinien als „Fremde“ angesehen und diskriminiert. Im Jahr 1919 kam es während der so genannten Semana Trágica (dt.: Tragische Woche), der Niederschlagung eines Arbeitskampfes, bei der 800 Menschen starben, auch zu einem Pogrom im jüdischen Viertel in Buenos Aires. „Dieser Teil argentinischer Geschichte ist bisher nicht ausreichend erforscht. Mir ist es wichtig, die Erinnerung an die jüdischen Arbeiter*innen zu bewahren. Sie selbst hatten keine Möglichkeit ihre Zeit zu dokumentieren, das will ich durch meine Arbeit nachholen.“

Weltweit sucht und findet Koppmann rare Primärquellen wie etwa Gewerkschafts-Zeitschriften, lässt sie aus dem Jiddischen übersetzen, analysiert sie und bringt die Perspektiven jüdischer Arbeiter*innen in einen historischen Kontext. Für ihn ist das auch eine archäologische Aufgabe. Eine, die sowohl einen direkten Bezug zur eigenen Familiengeschichte als auch zur heutigen Zeit hat. Seine Großmutter hatte jüdische Wurzeln und floh 1915 aus dem Zarenreich. Erst in die USA, dann nach Argentinien. Mit Blick auf die Gegenwart sagt Koppmann: „Wir leben in turbulenten Zeiten, in denen rechtsextreme politische Kräfte weltweit an Macht gewinnen und sich Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt weiter ausbreiten. Ich will die Fehler der Vergangenheit aufzeigen, damit wir hoffentlich daraus lernen.“

Wir leben in turbulenten Zeiten in denen rechtsextreme politische Kräfte weltweit an Macht gewinnen und sich Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt weiter ausbreiten. Ich will die Fehler der Vergangenheit aufzeigen, damit wir hoffentlich daraus lernen.
Walter Ludovico Koppmann, Georg Forster-Stipendiat

Schlüssel für Veränderung

Schon als Kind begleitete Koppmann seine Mutter, die ebenfalls Sozialwissenschaftlerin ist, zu verschiedenen Kongressen und Konferenzen und entwickelte so ein ausgeprägtes Gespür für soziale Probleme und einen inneren Drang, Lösungen dafür zu finden. Er befasste sich eingehend mit den Werken von Karl Marx und fand seinen Weg in den politischen Aktivismus. „Für mich sind organisierte, soziale Bewegungen der Schlüssel zur Veränderung und für eine bessere Welt. Wir können sie stärken, indem wir ihnen durch unsere Forschung und Theorien Denkwerkzeuge an die Hand geben.“

Und noch etwas hält Koppmann für entscheidend: „Wir müssen kollektiv handeln, einander mehr zuhören und jungen Menschen wirtschaftliche und politische Entscheidungsmacht geben.“ Für ihn sind neue gesellschaftliche Kriterien notwendig. In Bezug auf Diversität und Geschlecht, aber auch auf die Wirtschaft und den Klimawandel. „Die Menschheit kann nicht so weitermachen, wie im letzten Jahrzehnt.“

Kollektive Kraft

An die Kraft des Miteinanders und der Kommunikation glaubt Koppmann auch in der Wissenschaft. Informationen zu teilen, einander von Stipendienplätzen zu erzählen oder auf Nachfrage Ratschläge zu geben, all das gehört zu seiner Forschungsethik. „Nur so kann sich Wissenschaft weiterentwickeln und diverser werden.“

Am renommierten Lateinamerika-Institut zu forschen, auf exzellente Wissenschaftler*innen aus aller Welt zu treffen, das eigene Netzwerk auszubauen – all das ermöglicht mir, meine Karriere auf sehr hohem Niveau weiterzuentwickeln. Und das auch noch in dieser tollen Stadt.
Walter Ludovico Koppmann, Historiker und Humboldtianer aus Argentinien

Was die Forschungslandschaft in Argentinien angeht, ist Koppmann besorgt. Das Land befindet sich in einer Krise und die Wissenschaftswelt an einem Wendepunkt. Während die Zahl unbefristeter Forschungsstellen in den vergangenen zehn Jahren tendenziell stieg, verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen. Immer weniger Menschen wollen in der Forschung arbeiten, so Koppmann. „Bei uns gibt es die Redewendung ‚In Argentinien wird Wissenschaft mit 2 Dollar betrieben‘. Wir haben entweder wenig oder gar keine Mittel zur Verfügung.“ Erschwerend kommen die Pläne des zukünftigen Präsidenten Javier Milei dazu. Um die Krise einzudämmen, will dieser die Wissenschaft privatisieren und staatliche Förderungen komplett abschaffen.

Erfüllter Karrieretraum

Die Möglichkeiten, die Koppmann durch das Humboldt-Stipendium hat, bedeuten ihm viel. „Am renommierten Lateinamerika-Institut zu forschen, auf exzellente Wissenschaftler*innen aus aller Welt zu treffen, das eigene Netzwerk auszubauen – all das ermöglicht mir, meine Karriere auf sehr hohem Niveau weiterzuentwickeln. Und all das in dieser tollen Stadt“, so Koppmann. 2019 kam er als Tourist nach Berlin. Ein Tourguide erzählte ihm von den guten Bedingungen der Humboldt-Stipendien. „Das klang für mich damals noch in weiter Ferne. Zwei Jahre später bewarb ich mich, mit der Zusage erfüllte sich ein Traum.“

Inzwischen fühlt Koppmann sich in Berlin zuhause. In seiner WG steht ein Klavier – er spielt seit dem siebten Lebensjahr – und letzten Winter besuchte er in der Philharmonie ein Konzert der argentinischen Pianistin Martha Argerich. „Dieser Forschungsaufenthalt ist nicht nur der Höhepunkt meiner bisherigen Karriere, er verbindet mich auch mit meinen familiären Wurzeln.“ Koppmanns Großvater kam in Österreich-Ungarn zur Welt. „Deutsch zu lernen und zu sprechen, gibt mir das Gefühl zu meinen Vorfahren zurückkehren.“

Autorin: Esther Sambale

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