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Gerichtsprozess in Ecuador: Wie eine Humboldtianerin dem indigenen Volk der Siekopái zu seinem Recht verhalf

Im Jahr 1985 kam die Ethnologin und Anthropologin Maria Susana Cipolletti mit einem Humboldt-Stipendium an das Seminar für Völkerkunde der Universität Bonn, damals unter der Leitung des führenden deutschen Ethnologen für die Andenländer, Udo Oberem. Damals hätte sie sich niemals träumen lassen, dass ihre Forschung einmal dem Volk der Siekopái in Ecuador helfen würde, das Land ihrer Vorfahren zurückerhalten zu können.

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Zwei Mitglieder der Siekopai-Nation in traditioneller Kleidung stehen an einem Fluss mit Regenwald im Hintergrund
Zwei Mitglieder der Siekopai-Nation. Ein Bild, das der Siekopai Präsident Justino Piaguage der Zeitung EL PAÍS zur Berichterstattung zur Verfügung gestellt hat
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

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„Es ging um ein Waldgebiet an der Grenze zwischen Ecuador und Peru. Für die Siekopái ist es das Land ihrer Ahnen, in ihrer Sprache heißt es Pë'këya. Dieses Territorium ist von großer Bedeutung für sie, weil sich dort wichtige sakrale Orte befinden“, erklärt die mittlerweile pensionierte Bonner Professorin für Altamerikanistik und Ethnologie Maria Susana Cipolletti.

Die Siekopái, eine der indigenen Nationen des Tieflands im westlichen Amazonasgebiet, waren 1941 wegen des Krieges zwischen Ecuador und Peru von ihrem angestammten Territorium am Aguarico Fluss vertrieben worden. Dieser Landstrich am Äquator ist von tropischem Regenwald und Lagunen geprägt. Jahrzehnte später mit wachsendem postkolonialem Bewusstsein, forderten die Entwurzelten ihr Land zurück und klagten. Die Ethnologin und Anthropologin Maria Susana Cipolletti wurde im Prozess in Sucumbíos, Ecuador, als Zeugin geladen.

Niemand dürfte die Lebens- und Gedankenwelt der indigenen Gesellschaften Südamerikas so gut kennen wie die gebürtige Argentinierin. Schon bevor Cipolletti mit dem Humboldt-Stipendium 1985 als Postdoc nach Bonn kam, hatte sie mit den Siekopái im Tiefland des westlichen Amazonas gelebt, also Feldforschung betrieben. „Lange wusste niemand etwas über diese Menschen, sie lebten fern ab von den Städten der Spanier und sprachen nurpáikoká („die Sprache der Menschen,)“ so Cipolletti. Auch heute sprechen die 800 in Ecuador und rund 300 in Peru lebenden Siekopái páikoká.  

Eine Frau sitzt mit einem Buch auf dem Boden und unterhält sich mit einem Mann, der in einer Hängematte liegt
Maria Susana Cipolletti 1985 im Gespräch mit dem Schamanen der Secoya Fernando Payaguaje

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„Wie alle indigenen Gesellschaften Südamerikas haben die Siekopái keine Schriftkultur, die Geschichte, Mythen und Riten werden mündlich tradiert“, berichtet Cipolletti, die sich vom Schamanen in stundenlangen Sitzungen die Geschichte und Geschichten seines Volkes erzählen ließ. Für sie war es wichtig, nicht einfach nur zu beobachten und Gebrauchsgegenstände und Verhalten zu interpretieren, sondern die „Objekte“ zum Subjekt zu machen und die Schamanen als Bewahrer der Kultur selbst sprechen zu lassen.

Vor dem ecuadorianischen Gericht ging es für die Siekopái nun darum, mithilfe von Dokumenten, also Zeugnissen einer Schriftkultur, zu beweisen, dass ihnen das Land als ursprüngliche Besitzer zustand.

Maria Susana Cipolletti konnte helfen. Neben der Feldforschung hatte sie seit dem ersten Forschungsaufenthalt in Bonn auch auf dem Gebiet der Ethnohistorie Fuß gefasst und fortan historische Quellen in den wichtigsten Archive in Europa und Südamerika gesucht und studiert. Mehrere historische Dokumente der Jesuiten, darunter ein anonymes Manuskript, aus dem Jahr 1753 erbrachten im 21. Jahrhundert nun den Beweis, dass das Gebiet von Pë'këya ursprünglich über Jahrhunderte hinweg von den Siekopái bewohnt worden war.

Eine Frau mit Brille in geblümter Satinbluse
Maria Susanna Cipolletti als Humboldt-Stipendiatin in den 1980ern

„Damit die Siekopái psychisch, aber auch physisch überleben, ist es unabdingbar, dass sie vor Ort mit ihren Ahnen in Verbindung treten können“, erläutert Cipolletti. In der Kosmosvision der Siekopái ist es möglich, in Trance unter Einfluss bewusstseinserweiternder Pflanzenextrakte (Ayahuasca) die Vorfahren zu treffen, in die Zukunft zu schauen oder soziale Konflikte zu lösen. Diese identitätskonstituierenden Riten und Handlungen sind ortsgebunden. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn diese Völker den Ort verlieren, verlieren sie auch ihre Identität, leben in ständiger Entfremdung und sterben innerlich.

„Religion“ ist ein westlich geprägter Begriff, der eigentlich nicht auf die Riten und Mythen der indigenen Völker Südamerikas anzuwenden ist, schreibt Cipolletti in der Monographie „Kosmospfade“ (2019) über die religiösen Anschauungen der Indigene  Südamerikas, in der das über Jahrzehnte gesammelte Wissen der Expertin eingeflossen ist. Für sie ist es wichtig zu betonen, dass die Komplexität religiöser Ideen nicht an eine bestimmte Gesellschaftsform gebunden ist. „Gesellschaften, die dem einer westlichen Weltanschauung verhafteten Beobachter wegen ihrer Lebensweise oder kargen materiellen Kultur als „primitiv“ erscheinen mögen, haben vielfach elaboriertere Weltbilder als andere Gesellschaften, die durch die prächtige Ausstattung ihrer Tempel oder Städte beeindrucken“, schreibt Cipolletti in „Kosmospfade.“ Eine wichtige Erkenntnis, um kulturelle Hierarchien und dichotome Zuschreibungen der kolonial geprägten Welt aufzulösen.

Nach einem langwierigen Gerichtsprozess erkannte die Justiz in Ecuador den Siekopái Ende 2023 den Besitz des mehr als 42.000 Hektar großen Gebiets schließlich zu. Der hochbetagte Secoya Cesario Piaguage Payaguage, hatte sich gewünscht an die sakralen Orte zurückkehren und dort zu sterben, um seinen rituellen Zyklus zu vollenden. Für ihn kam das Urteil zu spät.

Eine Frau in einem schwarzen Mantel sitzt mit Blick in die Kamera an einem Tisch, auf dem ein Buch und eine Brille liegen
Maria Susanna Cipolletti im Jahr 2021

Maria Susana Cipolletti genießt heute ihren Ruhestand in Spanien. Sie kann auf ein einzigartiges Ethnologen-Leben zwischen Europa und Südamerika zurückblicken. Eine besondere Rolle haben darin vor allem auch Deutschland und deutsche Ethnologen wie ihr Doktorvater Otto Zerries, aber auch die Humboldt-Stiftung gespielt. Auch wenn Deutschkenntnisse für die Bewerbung bei der Humboldt-Stiftung nicht erforderlich sind, rät Maria Cipolletti Nachwuchswissenschaftlerinnen aus Südamerika, unbedingt Deutsch zu lernen, um richtig in die Sprache und Kultur abzutauchen. Sie selbst hatte schon früh damit begonnen, auch um Rilke, Hölderlin und Mann im Original lesen zu können.

Die indigenen Völker Südamerikas drohen zu verschwinden, auch weil ihr Lebensraum durch Erdölförderung zerstört wird. Mit diesen Menschen verschwinden auch Sprachen und ganze „KOSMEN“. Maria Susana Cipolletti hat einen unermesslichen Anteil daran gehabt, das Weltwissen der Menschheit, um die Welten der indigenen Nationen Südamerikas zu ergänzen. Die Reise ist sehr beschwerlich, aber sehr gerne würde sie den Siekopái wieder einen Besuch abstatten. Auf nach Pë'këya!

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