Interim für Auge und Ohr

Am 12. Mai werden die Alexander von Humboldt-Professuren verliehen, darunter sieben auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Die Künstliche Intelligenz hat längst Einzug in all unsere Lebensbereiche gefunden, auch in die Kunst und Musik.

Verleihung der Alexander von Humboldt-Professuren (Livestream am 12. Mai 2022, 19 Uhr)
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Die Alexander von Humboldt-Professur

Deutschlands höchstdotierter Forschungspreis holt internationale Spitzenforscher*innen an deutsche Universitäten.

Dossier: Infos zum Preis und allen Preisträger*innen
Presseeinladung: Verleihung der Humboldt-Professuren durch Bundesministerin Stark-Watzinger

Einleitung von Frank Böhme

Künstliche Intelligenz hat natürlich auch den musikalischen Bereich erreicht. Die Ergebnisse sind überraschend, mitunter beeindruckend.
Viel wichtiger: Die Existenz einer „Künstlichen Intelligenz“ zwingt die Kunst, über ihr Selbstverständnis nachzudenken. Kann sich Kunst gegenüber dem Künstlichen behaupten? Als Hochschule für Musik und Theater Hamburg, die mit der dramaturgischen Programmgestaltung dieser Veranstaltung beauftragt war, stand folgerichtig die Frage der künstlerischen Individualität in der Vergangenheit und Zukunft am Anfang der Überlegungen.

Zu den individuellsten Merkmalen des Menschen gehört die Stimme. Das Geschlecht, das Alter, das Sprechen der Muttersprache, die Unverwechselbarkeit dialektaler Färbungen, das soziale Umfeld oder der emotionale Zustand sind bei jedem Menschen in Bruchteilen von Sekunden erfahrbar. Es gibt keine zwei Menschen, die eine gleiche Stimme haben. Besonders wenn es um das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit oder das Verhältnis von Sprache und Bewusstsein (im Sinne von Denken) geht, hat die Geistesgeschichte faszinierende Erkenntnisse gewonnen.

Wenn die Stimme an Sprache gebunden ist, wird mit der semantischen Ebene eine Komplexität erreicht, die jeden Menschen im Hören auf sich selbst bezieht. Im Hören der fremden und eigenen Stimme wird er sich seiner selbst gewahr. Für diese Veranstaltung wurde deshalb die komponierte Stimme zum katalysierenden Faktor der dramaturgischen Überlegung.

Das Geflecht von Beziehungen und Bezügen potenziert sich, wenn die Stimme mit Musik kombiniert wird. Gleichzeitig aber entsteht ein Freiraum, der den Geist von der Bodenhaftung des Notwendigen entbindet. Er ist frei.

Die künstlerischen Interventionen sind Reflexionen zu diesem Thema.

Den Beginn macht ein mittelalterlicher Gesang von Hildegard von Bingen. Die beiden folgenden Interventionen greifen die Form des klassischen Klavierliedes auf, jedoch stehen bei der Stimme zwei analytische Zugänge im Fokus: Im ersten Fall werden die melodisch-rhythmischen Potenziale einer individuellen Sprechstimme untersucht, und im zweiten Fall wird die Stimme rechnergestützt erzeugt. Dieser begleiteten Einstimmigkeit antwortet zum Abschluss eine chorische Vielstimmigkeit. Ausgehend von einem Grundmuster, begibt sich der Frauenchor in den Bereich der improvisatorischen Unbestimmtheit. Die Stimmen entfalten sich im Raum zu einem kollektiven Klang, getragen von 15 individuellen Stimmen.

Frank Böhme (Professor für Angewandte Musik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg)

Die vier Interventionen

Vier musikalisch-visuelle Interventionen – Eingriffe also in die Dramaturgie unserer Festveranstaltung –, die nicht nur von künstlerischer Intelligenz gewollt und gestaltet sind, sondern und vor allem auch von künstlicher Intelligenz. Menschliche und außermenschliche Stimmen sind Ausgangspunkt für vier KI-generierte, audioreaktive Visualisierungen des Künstlers Stefan Kraus.

1. Hildegard von Bingen – O Virtus Sapientiae

„O Kraft der Weisheit, umkreisend die Bahn, die eine des Lebens, ziehst um das All du die Kreise, alles umfangend!“ So beginnt der Cantus Gregorianus. Jeder gregorianische Choral ist in der römisch-katholischen Kirche das gesungene Wort Gottes und ein wesentlicher Bestandteil der liturgischen Handlung. Nach heutigen Maßstäben ist es also kein Lied, sondern ein gesungenes Gebet. Es wird im Unisono, also viele Stimmen singen eine Stimme, vorgetragen.

O Virtus Sapientiae besingt die Kraft der Weisheit, die kreisend, alles umgreifend die Umlaufbahn durchläuft. Dagegen vermittelt die im Raum dargestellte Visualisierung keine geordnete Sicherheit, sondern verfolgt einen Punkt auf seinem Weg durch die schier endlose Landschaft der Möglichkeiten: Sinnbild für die tastenden Suchbewegungen der Wissenschaft. Am Ende aber wird erkennbar, dass der nur scheinbar chaotische Pfad von Anfang an in eine Richtung geführt hat

2. Peter Ablinger - Voices and Piano: Huberto Maturana (seit 1998)

Bis zur Möglichkeit der medientechnischen Konservierung war Stimme ein ephemeres Medium. Der Komponist hört eine Aufnahme von Humberto Maturana. Mit computergestützten Methoden spürt er ihrem besonderen Reiz nach und transformiert die stimmliche Individualität, indem er sie von einem Piano begleiten lässt. Der chilenische Neurobiologe und Philosoph Maturana gilt als einer der Begründer des Konstruktivismus und beschäftigte sich u. a. mit der Frage, ob man zwischen lebenden und nicht lebenden Systemen unterscheiden kann.

Das Prinzip der Rasterung wird ins Akustische übertragen – und in der KI-erzeugten Animation direkt wieder ins Visuelle zurückgeführt: In Form von grafischen Interpretationen und Vernetzungen, die das Authentische seines Porträts dekonstruieren und in neue Möglichkeiten überführen.

3. Martin Schüttler - Posthuman Songbook (seit 2019) #0.a.1, #0.b.1, #0.c.1

Im Posthuman Songbook geht Schüttler den umgekehrten Weg.

Hier erzeugen neuronale Netzwerke fortlaufend neue Songs. Sie generieren dabei sowohl den Text als auch die Melodie. Die heute uraufgeführten Songs entstammen der ersten Sub-Reihe #0, bei der ein neuronales Netzwerk mit einer Sammlung von anglo-amerikanischen christlichen Chorälen trainiert wurde. Die Singstimme wurde mittels einer historischen Software zur Spachsynthese produziert, was vor allem als Stimme von Stephen Hawking bekannt wurde. Die Klavierbegleitung entstand hingegen als konzeptuelle Improvisation.

KI inspiriert KI: Die Visualisierung nutzt ihrerseits einen Algorithmus, um die drei Stücke in ihrer Individualität sichtbar zu machen. Verschiedene Punkte werden zu einer übergeordneten Struktur verbunden. Was eigen ist, kristallisiert stets entlang am anderen.

Martin Schüttler
Posthuman Songbook (seit 2019)

Posthuman Songbook ist eine offene, potentiell unendliche Sammlung von Songs, an der ich seit 2019 arbeite. Kompositorisches Konzept ist die Verwendung neuronaler Netzwerke, die fortlaufend immer neue Songs generieren und sowohl Text als auch Melodie erzeugen. Die heute uraufgeführten Songs entstammen der ersten Sub-Reihe #0, bei der ein neuronales Netzwerk mit einer Sammlung von anglo-amerikanischen christlichen Chorälen trainiert wurde. Die Singstimme wurde mittels einer historischen Software zur Spachsynthese produziert. Das Programm DECtalk ist vor allem als Stimme von Steven Hawking bekannt.

Während Text, Melodie und Gesang vom Computer erzeugt wurden, ist die Klavierbegleitung als konzeptuelle Improvisation entstanden. Das bedeutet: zu jedem AI-Song habe ich einmalig und ohne nachträgliche Bearbeitung am Klavier improvisiert. Die in Notentext übertragene Improvisation wird schließlich von der Pianistin als Begleitung des synthetischen Gesangs live gespielt. Die AI-Songs treffen auf ein anderes neuronales Netzwerks, das Unterbewusstsein des Komponisten-Gehirns. Die Grenzen sind fließend, trainierte Maschinen sind auch wir.


Posthuman Songbook #0.a.1

sahm breyk ahs wuhd nayn striyz aend prey ey dha suwn
biy kraestrr fehlow lahv ehvriy baht staym
sihn sey kihn a wehey 
preyz ahv hihihz lahv
jhiyz ahs naet treyn a frey dawn aend riy drawns
sow aym grahahahahs a behehs aend liy layt a lah sahv
wihihl sahniy aoay fihl bluw ihihn stiyiy haw ay thrrsiyz
aoar ehehvrr yu aend breytenz ar ay tuw feys ahv ihna maedrr wiy thihnxz aend show yuuw
ay waonts prey ziz tehn row baek trehh aoayv
aend ayv leht dher tuwguhd kerriy
trrz tuw lay kihn ihn a wuhcht layk miy wihth waht ay diy rih

Posthuman Songbook #0.b.1

tehl kaol rahnthawrihn a geher!
waot – leht abawt awrrh iray knaht fold
aend ayh aev for iht ehm gao tihz akraos dha kornaend dha lahv frahm hehvahn
dhaetz mor low or dzamayriy
aw dahndha layf wahz kihnz miy thahahtiyz rehd
haw tha layk ahv hihm yuuw aend hehvahn
aend ay staend zaen day puhd ihz frehnd

chihl frahm dha snow shay glowriyiy iyrayt
ow shey ahehz neym
tuw aend ihdel zseyn wahd wehn thahp
lay ta wey
wehn ay chahm huw
bey kyu now yu
shaoayn howliy drehs diht truwuw
downt now waok nays brehka rehd yu
sow lowor wihn hihm waot kaent miych.

«command error in phonem 1200 and 400.»

Posthuman Songbook #0.c.1

nah thihnx sahch – ehriy kraw ahn
wiy ar – yor aol wiyl for siyiy ay layf
no faynt leht gow gaod ahv mersiy aend waoks ay wuhuhuhd
aend ay wuhdsihnx ay pawt dha preher

dhiyihz wahnta klehstlow pahnz dhaet dha word hihm sowl ihn yor lahvzriyiy
dehehndrr lehst wahn siyuhkliyn

wehn ayv gaot meyka driy mareyn
dahm meyk tuw haef dhaets dhow jhahst aoltahs tiylayv guhna brayt
no nooooon

aend ay ziy aend nah thihndaethaed
ay waont haevihn dhaet ay kaolx may hart
ay kaen duw tuw gowliy armiyz

kahmaeaen ay thruw vihkterz dha yahngrr wiy haev laest

4. Lux Aeterna - Eine polyphone Improvisation

Der Chorgesang wird jetzt vielstimmig. Die Individualität des Einzelnen vereinigt sich im Raum zu einem klanglichen Ganzen.

Lux Aeterna ist die formulierte Bitte nach ewigem Licht. Sie ist die Communio in der liturgischen Messe und gehört dort zum Proprium, also zu den nach der Zeit des Kirchenjahres wechselnden Teilen der Liturgie. Benannt ist das Stück nach den Anfangsworten (Incipit) des Textes. Besonders die Lichtmetapher hat bis in die Gegenwart viele Komponisten zu eigenen (auch weltlichen) Werken angeregt (u. a. Ligeti).

Lux Aeterna führt zu einer kinetischen Interpretation, die die zweidimensionale Leinwand verlässt und sich im Raum manifestiert. Leuchtende Kugeln durchlaufen in einer gemeinsamen Choreografie unterschiedliche Formen von Ordnung und Organisation zwischen mathematischer Präzision und intuitivem Chaos, zielgerichteter Effektivität und halb-bewusstem Schwarmverhalten. Zuletzt bleibt eine einzelne Kugel zurück und nimmt stellvertretend den Schlussapplaus entgegen.

Komponist*innen und Künstler*innen

Porträts der Komponist*innen Hildegard von Bingen, Peter Ablinger und Martin Schüttler sowie der Künstler*innen Annedore Hacker-Jakobi, Stefan Kraus und Sun-Young Nam
Die Komponist*innen Hildegard von Bingen, Peter Ablinger und Martin Schüttler sowie die Künstler*innen Annedore Hacker-Jakobi, Stefan Kraus und Sun-Young Nam

Der Lebenslauf der mittelalterlichen Frau mutet sehr modern an. Als Benediktinerin, Äbtissin, Dichterin, Komponistin ist sie eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters. Sie hat eine eigene Sprache (Lingua Ignota) entwickelt, herausragende theologische, natur- und heilkundige Texte verfasst. Von ihr ist auch ein umfangreicher Briefwechsel erhalten geblieben, und dieser gibt Einblick in ihr Denken und Handeln. Hildegard hatte ein selbstbewusstes und charismatisches Auftreten und wurde wegen ihrer Lebensart für viele Menschen – damals wie heute – zum Vorbild.

In Österreich geboren, lebt der Künstler mittlerweile in Berlin. Neben einem Grafik- und Jazzklavier-Studium absolvierte er in der Folge noch ein Kompositionsstudium bei Gösta Neuwirth und Roman Haubenstock-Ramati. Waren es anfangs vorrangig kammermusikalische Stücke, entstanden später auch elektroakustische Werke und künstlerische Klanginstallationen. Viele seiner Arbeiten sind in Werkkomplexen strukturiert. Ablinger schreibt darüber hinaus über ästhetische, philosophische und musiksoziologische Themen.

Martin Schüttler arbeitet als Komponist, Performer und Medienkünstler. Sein ästhetischer Schwerpunkt liegt auf der Rekontextualisierung sozialer, medialer, räumlicher, politischer oder körperlicher Gegebenheiten von und mit Musik. Hierfür setzt er gezielt auf intensive Kooperationen mit ausgewählten Verbündeten, z. B. die Ensembles Nadar, asamisimasa, hand werk, Ictus oder das Trio Catch. Ferner zahlreiche Aufführungen durch renommierte Klangkörper (SWR Vokalensemble, Musikfabrik, hr-Sinfonieorchester), bei internationalen Festivals (Donaueschinger Musiktage, Warschauer Herbst, musica Strasbourg), Radiosendungen, Auszeichnungen, Vorträge, Kurse, Performances, Ausstellungen und Konzerte weltweit.

Nach Studien von Komposition und Musiktheorie an der Folkwang Universität der Künste u. a. bei Nicolaus A. Huber und Ludger Brümmer war Schüttler 2001-2004 Stipendiat am ZKM Karlsruhe. Er unterrichtete an der HfMDK Frankfurt und an der Philipps-Universität Marburg, seit 2014 ist er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart.

Annedore Hacker-Jakobi, geboren 1983 in Algier/Algerien, ist seit dem Wintersemester 2017/2018 Professorin für Chorleitung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (HfMT). Sie leitet den Mitarbeiter*innen-Chor der Elbphilharmonie Hamburg und wurde für dessen Gründung im Herbst 2019 engagiert. Zudem leitet sie die Walddörfer Kantorei Hamburg-Volksdorf. Gemeinsam mit vielen motivierten Studentinnen der HfMT gründete sie den Frauenchor der Hochschule.

Annedore Hacker-Jakobi studierte Schulmusik und Chorleitung an der Musikhochschule Karlsruhe, Germanistik an der Universität Karlsruhe sowie Chor- und Orchesterleitung an der Musikhochschule Würzburg. Ihre Lehrer waren u. a. Martin Schmidt, Jörg Straube, Hans-Rainer Förster, Ari Rasilainen und Heikki Liimola. Ein halbjähriger Studienaufenthalt führte sie nach Kuopio/Finnland, wo sie mit Unterstützung eines Baden-Württemberg-Stipendiums an der Sibeliusakademie Helsinki/Kuopio wichtige Impulse für ihre Chorarbeit erhielt.

Der Medienkünstler Stefan Kraus lebt und arbeitet in Berlin. Er ist einer der Gründer des NODE Institutes für kreative Programmierung, des Projection Mapping Festivals Genius Loci Weimar und des Medienkunst Studios MXZEHN. Seit dem Studium der Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar erforscht er die Erweiterung architektonischer Räume mit interaktiven, oft generativen Medien und das narrative Potenzial abstrakter Bildwelten. Sein besonderes Interesse gilt der Kunst der visuellen live Improvisation im Umfeld medial erweiterter Szenografien für Theateraufführungen sowie Tanz- und Musik Performances. Sein Wissen und seine Erfahrung teilt Stefan Kraus mit Studierenden verschiedener Hochschulen und der Creative Coding Community. Sein Studio MXZEHN konzipiert und produziert Medienarchitektur, interaktive Installationen und Augmented Reality Anwendungen für Kunden aus der Wirtschaft sowie Institutionen, Festivals und Ausstellungen.

Sun-Young Nam wurde in Südkorea geboren. Ihr Klavierstudium an der Seoul National University führte sie in Deutschland fort. Zuerst an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, dann an der Hochschule für Musik Karlsruhe bei Prof. Kaya Han und beendete dort ihre Ausbildung mit dem Konzertexamen. Anschließend folgte noch ein Kammermusikstudium an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

Seit sie in Deutschland ist, beschäftigt sie sich intensiv mit zeitgenössischer Musik. Sie war Stipendiatin der International Ensemble Modern Academy und arbeitet mit den wichtigsten zeitgenössischen Komponisten Europas zusammen. Sun-Young Nam ist ständiger Gast bei Rundfunk- und CD-Produktionen. Sie konzertiert u. a. mit dem Trio Catch, MAM.manufaktur für aktuelle Musik, Ensemble Modern, Ensemble Resonanz sowie als Solistin in Europa und Asien. Darüber hinaus hat sie Filmaufnahmen auf den historischen Flügeln für das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg eingespielt. Neben Meisterkursen an europäischen Hochschulen führte sie ein Lehrforschungsprojekt an der Hochschule in Hamburg durch. Seit 2020 ist sie Professorin für Klavier an der Akademie für Tonkunst Darmstadt.