Pressemitteilung

Für attraktive wissenschaftliche Karrieren in Deutschland

Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen hat am 30. März eine weitere Stellungnahme zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) veröffentlicht. Der vorliegende Text ergänzt die am 23. März publizierte Position zum Thema. 

  • vom
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Kontakt

Presse, Kommunikation und Marketing
Tel.: +49 228 833-144
Fax: +49 228 833-441
presse[at]avh.de

Die jüngsten Diskussionen um die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes sind geprägt von hohen Erwartungen an eine Planbarkeit und Verlässlichkeit fördernde Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Karrieren in Deutschland.
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz kann mit seinem Fokus auf rechtlich definierte Befristungsgründe und –dauern nur einen Teil dieser Rahmenbedingungen regeln. Uns ist beides wichtig: Eine umfassende Verbesserung der Perspektiven aktueller und zukünftiger Generatio-nen von Wissenschaftler:innen und leistungsfähige Wissenschaftseinrichtungen. Dafür wird es Anstrengungen brauchen, die über die Gesetzesreform hinausgehen und auch die Finanzierungs- und Personalstrukturen in den Blick nehmen. Dabei sind die Wissenschaftsorganisatio-nen ebenso gefragt wie ihre Partner in Bund und Ländern.
Es braucht deshalb beides: Die Weiterentwicklung des WissZeitVG und die Weiterentwicklung der Karrierewege für Wissenschaftler:innen in Deutschland.

Das BMBF hat am 17.03.23 Eckpunkte für eine Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes veröffentlicht. Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen begrüßt den größten Teil dieser Eckpunkte:

  • Die für die Qualifizierungsphase vor der Promotion vorgeschlagenen Regelungen tragen wir mit. Die Mindestvertragslaufzeit von 3 Jahren für den Erstvertrag entspricht der guten Praxis; die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift schafft Raum für begründete Abweichungen. Wir begrüßen die Beibehaltung des Qualifizierungsbegriffs und die Verbindlichkeit durch die Klarstellung zur wissenschaftlichen Qualifizierung in der Begründung.
  • Dass weiterhin Zeiten aus der Promotionsphase bei schnellerem Abschluss in die Postdoc-Phase übertragen werden, schafft Raum für individuelle und fachspezifische Lösungen.
  • Wir teilen das Ziel einer frühen Planbarkeit der wissenschaftlichen Karriere. Aus unserer Sicht ist dafür der Übergang zwischen der frühen Postdoc-Phase (R2 im Sinne der Forschungsqualifikationsprofile der Europäischen Kommission) und der Karrierephase R3 ‚etablierte Wissenschaftler:in‘ der entscheidende Zeitraum, der in unseren Vorschlägen unten näher beleuchtet wird.
  • Die Möglichkeit, weiterhin im Kontext von Drittmittelprojekten ohne zeitliche Obergrenzen befristen zu dürfen, ist für das Funktionieren des Wissenschaftssystems elementar. Hilfreich wären praktikable Regelungen, um befristete Projektmittel für die Finanzierung unbefristeter Beschäftigungsverhältnisse einsetzen zu können.
  • Wir können uns einen Vorrang der Qualifikationsbefristung vor der Drittmittelbefristung vorstellen und praktizieren dies bereits umfassend. Allerdings muss gesetzlich gewährleistet sein, dass diese Vorrangregelung als Soll-Vorschrift nur dann zum Tragen kommt, wenn tatsächlich eine Qualifizierung vertraglich vereinbart ist, um in anderen Fällen (vor allem im Bereich des Transfers und bei privaten Mittelgebern) die erforderliche Flexibilität zu erhalten.

Wir würdigen außerdem ausdrücklich die Gesprächsoffenheit und Ausgewogenheit, die den gesamten Prozess bislang gekennzeichnet hat.

Es verbleiben zwei kritische Punkte, die wir zur Diskussion stellen wollen:

1. Die weitere Öffnung der Tarifsperre.

Eine weitere Öffnung der Tarifklausel, d.h. die Überlassung wichtiger Elemente der Befristungsregelungen zur Regelung durch das Tarifrecht hält die Allianz weder für sachgerecht noch für geboten. Diese Öffnung widerspräche der Verpflichtung des Gesetzgebers, alle wesentlichen Elemente selbst zu regeln, wenn er sich zu einer gesetzlichen Regelung entschließt. Befristungsregelungen in Flächentarifverträgen würden den unterschiedlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen und deren individuellen Missionen und Karrierewegen nicht gerecht. Die weitere Öffnung der Tarifklausel kann zu einer völligen Zersplitterung der Beschäftigungsbedingungen in den Ländern und im Bund führen. Einrichtungsspezifische, kleinteilige und im Ergebnis nicht mehr überschaubare tarifliche Befristungsregelungen würden die zwischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen erforderliche Mobilität erschweren und damit die Wissenschaftsfreiheit unangemessen beeinträchtigen – zum Nachteil der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Wird die gesamte Qualifizierungsbefristung nach § 2 Abs. 1 WissZeitVG in die Dispositionsfreiheit der Tarifpartner gelegt, sind die Folgen für den Wissenschaftsstandort Deutschland schwerwiegend.

2. Die Senkung der Höchstbefristungsdauer auf 3 Jahre für die Qualifizierungsphase nach der Promotion.

Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen begrüßt die Ankündigung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), einen der am meisten kritisierten Punkte aus dem Eckpunkte-Papier für die Reform des WissZeitVG erneut zur Diskussion zu stellen. Eine Begrenzung der Postdoc-Phase auf drei Jahre schränkt Forschende auf ihrem Karriereweg unangemessen ein – mit der möglichen Folge, dass hochqualifizierte Wissenschaftler:innen in frühen und mittleren Karrierephasen (R2) noch keine Position auf der nächsten Karrierestufe erreichen können und sich daher für einen Ausstieg aus der Wissenschaft entscheiden müssen. Die jüngsten Diskussionen haben deutlich gemacht, dass die Betroffenen selbst diesen Zeitraum als deutlich zu kurz empfinden, um sich für anschließende Karrierepositionen zu qualifizieren. Im großen Bereich der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW)/Fachhochschulen (FH) verhindert die Begrenzung auf drei Jahre zudem die Anwendung der etablierten und sehr erfolgreichen Tandemprogramme, die für eine Professur qualifizieren.

Wir schlagen deshalb ein 4-Plus-Modell vor. Der Kerngedanke ist, die Frage und Dauer einer Befristung an den Karrierephasen und -zielen auszurichten:

4 Jahre für R2:

Die R2-Phase des Postdocs ist eine Phase der Weiterqualifizierung und Profilbildung. Sie dient dazu einen eigenständigen Beitrag zum gewählten Forschungsbereich zu leisten, nach erfolgreicher Promotion das individuelle wissenschaftliche Profil weiter herauszuarbeiten und sich für eine Karriere innerhalb oder außerhalb der Wissenschaft weiter zu qualifizieren. Dies erfolgt in der Regel durch Publikationen, Technologieentwicklung und Patente, die Einwerbung von Drittmitteln, Konferenzbeiträge, aber auch durch das Aufbauen von Lehr-, Betreuungs- und Führungserfahrung. Häufig ist die Postdoc-Zeit auch das Zeitfenster für Mobilität zwischen Wissenschaftseinrichtungen und im internationalen Raum. Im Bereich der HAW/FH dient diese Phase dem notwendigen Aufbau von Expertise in Wissenschaft und Wirtschaft, die die Berufbarkeit erst ermöglicht.

Wissenschaftseinrichtungen, die Postdoc-Leitlinien für sich formuliert haben, bemessen die R2-Phase auf ungefähr vier Jahre. Eine Richtungsentscheidung über den weiteren Werdegang ist rechtzeitig vor dem Ende dieser Phase angebracht. Voraussetzung dafür sind Angebote der Qualifizierung, uneigennützigen Beratung sowie Feedbackmechanismen der arbeitgebenden Institutionen. Sie sind in der Pflicht, die Voraussetzungen für eine eigenverantwortliche Karriereentscheidung der Wissenschaftler:innen zu schaffen.

Die entscheidende Weichenstellung erfolgt am Ende der R2-Phase – mit folgenden Optionen:

  • Der Weg in den außerakademischen Arbeitsmarkt
  • Eine dauerhafte Tätigkeit in der Wissenschaft ohne Berufung
  • Der Ausbau des wissenschaftlichen Profils mit dem Ziel der Berufungsfähigkeit auf eine Professur (R3 mit dem Ziel des Übergangs zu R4)

Plus-Komponente nach der bis zu vierjährigen R2-Phase:

Wir schlagen vor, dass für den weiteren Weg innerhalb der Academia und jenseits von Drittmittelprojekten (Wege 2) und 3)) nur dann eine erneute Befristung möglich sein soll, wenn sie mit einem Karriereweg mit definiertem Ziel, Dauer, Wegmarken, Kriterien und der Perspektive auf eine unbefristete Position verbunden ist. Dieser Karriereweg ist von den arbeitgebenden Einrichtungen allgemein, transparent, planbar und verbindlich festzulegen, und zwar…

Ad 2) … für die dauerhafte Tätigkeit in der Wissenschaft ohne Berufung durch Entfristungsleitlinien, ggf. ergänzt durch Qualifikationsformate für Karrierewege mit spezifischen Aufgabenschwerpunkten wie Lehre, Weiterentwicklung wissenschaftlicher Infrastruktur, Data Scientists o.Ä. Auf diesem Karriereweg wird entweder unmittelbar im Anschluss an die R2-Phase entfristet oder, falls eine spezifische Weiterqualifikation geboten ist, in der Regel spätestens zwei Jahre nach Abschluss der R2-Phase in einem transparenten Verfahren.

Ad 3) Für die Herstellung der Berufungsfähigkeit haben sich in den letzten Jahren vielfältige Formate entwickelt und bewährt. Beispiele im deutschen Wissenschaftssystem sind W1-Professor:innen, Tenure Track Professuren, Programme wie Emmy-Noether, Leibniz-/ Helmholtz- / Max-Planck-Gruppenleitung bzw. Advanced Max Planck Research Group, ERC Starting Grant oder auch Wissenschaftler:innen in Habilitationsverfahren. Eine Befristung auf einem solchem Karrieretrack in der R3-Phase sollte unabhängig von der Geldquelle – also auch auf der Basis von Haushaltsmitteln – bis zu maximal 6 Jahren nach Abschluss der R2-Phase möglich sein, wenn die folgenden Kriterien zutreffen:

  • Für den Karriereweg können überdurchschnittlich hohe Chancen auf eine erfolgreiche Berufung belegt werden.
  • Wettbewerblicher Eintritt in den Karrieretrack in einem transparenten Begutachtungsverfahren. Die Positionen müssen öffentlich und international ausgeschrieben werden.
  • Klare Ausrichtung auf die Herstellung von Berufungsfähigkeit. Das bedeutet konkret, dass die Person auf diesem Track angemessene Ressourcen sowohl in zeitlicher als auch in materieller Sicht bekommt, um qualitativ wie quantitativ exzellente Forschung und Lehre zu betreiben.
  • Wissenschaftliche Unabhängigkeit. Personen auf diesem Track setzen ihre Forschungsagenda selbst und verfügen eigenständig über die ihnen zugeordneten Ressourcen.

Die Wissenschaftsorganisationen sind bereit, sich für die benannten Punkte und definierte Ziele nachhaltig zu engagieren, darüber zu berichten und an entsprechenden Evaluationen mitzuwirken. Mit dem Pakt für Forschung und Innovation steht für die außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen ein Instrument bereit, das diese Schwerpunktsetzung in der nächsten Phase ab 2026 aufnehmen kann.

Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen ist ein Zusammenschluss der bedeutendsten Wissenschafts- und Forschungsorganisationen in Deutschland. Sie nimmt regelmäßig Stellung zu wichtigen Fragen der Wissenschaftspolitik. Sie nimmt regelmäßig zu Fragen der Wissenschaftspolitik, Forschungsförderung und strukturellen Weiterentwicklung des deutschen Wissenschaftssystems Stellung.
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat für 2023 die Federführung der Allianz übernommen. Weitere Mitglieder sind die Alexander von Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz, die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und der Wissenschaftsrat.

Medienkontakt
Anne Lange, M.A.
Wissenschaftliche Referentin des Präsidenten
Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina
+49 (0)345 472 39-880
anne.lange[at]leopoldina.org

(Pressemitteilung 7/2023)

Jährlich ermöglicht die Alexander von Humboldt-Stiftung über 2.000 Forscher*innen aus aller Welt einen wissenschaftlichen Aufenthalt in Deutschland. In weltweit über 140 Ländern pflegt die Stiftung ein fächerübergreifendes Netzwerk von mehr als 30.000 Humboldtianer*innen – unter ihnen 61 mit Nobelpreis.

vorherige Pressemitteilung Allianz der Wissenschaftsorganisationen zur Reform des WissZeitVG
nächste Pressemitteilung Mehr als 200 Forschende aus 54 Ländern bei Netzwerktagung in Mainz