Interview

Warum Wissenschaftsfreiheit der Gradmesser einer freien Gesellschaft ist

Wie steht es aktuell um die globale Wissenschaftsfreiheit? Stiftungspräsident Robert Schlögl und Robert Quinn, Executive Director des Scholars at Risk Network, im Gespräch zur globalen Repression von Forschenden und zum zehnjährigen Jubiläum der Philipp Schwartz-Initiative.

  • vom 
  • Interview: Tim Gabel
Porträtfotos von Robert Quinn und Robert Schloegl
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Robert Quinn ist Jurist, Mitgründer und Executive Director des internationalen Netzwerks Scholars at Risk (SAR) mit Sitz an der New York University. SAR gehören mehr als 600 Wissenschaftsinstitutionen aus über 45 Ländern an. Robert Schlögl ist seit 2023 Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung. Zuvor war der Chemiker und international renommierte Experte für grüne Energie und Energiesysteme der Zukunft Direktor am Fritz-Haber-Institut in Berlin. Beide setzen sich für die Stärkung von Wissenschaftsfreiheit ein.

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Status quo der Wissenschaftsfreiheit weltweit 

Herr Quinn, aktuelle Reports wie Free to Think und der Academic Freedom Index deuten auf einen Rückgang der Wissenschaftsfreiheit weltweit hin. Sehen wir hier einen globalen Trend? 

Robert Quinn: Ganz klar, ja. Die Daten beider Reports zeigen, dass der Druck auf Institutionen und Einzelpersonen steigt. In Zeiten politischer, sozialer und technologischer Unsicherheit verstärken sich die schon lange bestehenden Spannungen zwischen Macht auf der einen und freier Forschung bzw. Wissenschaftsfreiheit auf der anderen Seite. 

Und wir leben in Zeiten sich häufender Unsicherheiten: Klimawandel, neue geopolitische Konflikte, Druck durch Migration, wirtschaftliche Ungleichheiten, die Folgen der Pandemie und disruptive Technologien wie die KI. Diese Dynamiken verstärken den Impuls gewisser Akteure, den offenen Diskurs zu unterdrücken – besonders wenn es für die etablierten Machtstrukturen unbequem wird. 

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Entwicklungen? 

Robert Quinn: Die Ursprünge reichen Jahrzehnte zurück, aber mehrere aktuelle Entwicklungen haben diesen Trend beschleunigt. Wann immer Gesellschaften in eine Phase der Instabilität geraten, wächst die Spannung zwischen Universitäten und dem Staat.  

In der heutigen Zeit sich häufender Unsicherheiten trifft man auf zwei gegensätzliche Reaktionen. Die einen sagen: „Das ist komplex – lasst uns Daten sammeln und Lösungen finden.“ Die anderen behaupten: „Das ist ganz einfach – wir sollten zu früheren Verhältnissen zurückkehren und nicht auf die Expert*innen hören.“ Letztere Haltung befeuert Angriffe auf Forschende, Gesundheitsfachleute, Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen gleichermaßen. Solche Attacken sind nicht nur politische, sondern auch emotionale Reaktionen. 

„Bedrohungen verbreiten sich schneller. Forschende überall spüren die Verletzlichkeit der Wissenschaftsfreiheit unmittelbarer.“
Robert Schlögl, Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung

Welchen Bedrohungen sind Forschende heute ausgesetzt? Was sind Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit?

Robert Quinn: Wir beobachten die ganze Bandbreite von Bedrohungen – von leichten Formen der Belästigung bis hin zu Inhaftierungen und Tötungen. Scholars at Risk konzentriert sich auf die schwersten Fälle: Gewalt, Verfolgung und unrechtmäßige Inhaftierung. Eine Stufe darunter findet man gezielte Belästigungen – Doxing, digitale Hetze, Einschüchterung und manchmal physische Bedrohungen. Selbst ohne direkte Attacken ist der chilling effect tiefgreifend: Angst, Isolation, Selbstzensur. 

Wir beobachten das sogar in Ländern, die sich selbst noch als sicher betrachten, was die Wissenschaftsfreiheit angeht, wie etwa den USA, wo Reiseverbote und politische Einmischung zunehmen. Letztendlich schaden diese Bedrohungen nicht nur den Einzelpersonen – sie untergraben auch die Fähigkeit der Universitäten, der Öffentlichkeit zu dienen, Wissen zu produzieren und zur gesellschaftlichen Entscheidungsfindung beizutragen.

Wo ist die Situation der Wissenschaftsfreiheit am besorgniserregendsten?

Robert Quinn: Leider sind alle Regionen betroffen. Unser aktueller Free to Think Report dokumentiert 395 Angriffe in 49 Ländern. Zu diesen Angriffen zählen: 

  • Inhaftierungen, 
  • Überwachung. 
  • Ausweisungen aus konfliktgeprägten Staaten,
  • Eingriffe durch die Gesetzgebung, 
  • ideologische Einschränkungen und 
  • öffentliche Hetze in demokratischen Gesellschaften. 

Was sich geändert hat, ist das öffentliche Bewusstsein: Universitäten in Europa oder Nordamerika können nicht mehr davon ausgehen, dass ihr Arbeitsumfeld per se sicher ist. In vielen Demokratien nimmt der Druck zu, wissenschaftliche Expertise und evidenzbasierte Debatten zu delegitimieren.

Was versteht man unter Wissenschaftsfreiheit? Mehr zum Thema hier! 

Impact und Erfolge der Philipp Schwartz-Initiative

Herr Schlögl, seit zehn Jahren gibt es nun die Philipp Schwartz-Initiative (PSI), um gefährdete Forschende zu unterstützen. Wie hat sich die Realität seitdem verändert?

Robert Schlögl: Die Philipp Schwartz-Initiative wurde 2015 ins Leben gerufen als Reaktion auf die Entwicklungen im Nahen Osten, insbesondere in Syrien. Seitdem hat sich die Weltkarte der Bedrohungen dramatisch verändert: Russland, die Ukraine, Afghanistan – ebenso wie die Krisen, die dadurch entstanden sind und systemische Risiken für ganze akademische Gemeinschaften mit sich gebracht haben. 

Was sich ebenfalls verändert hat, ist unsere Wahrnehmung: Bedrohungen verbreiten sich schneller. Die sozialen Medien sorgen dafür, dass sich Angst sofort ausbreitet. Forschende überall spüren die Verletzlichkeit der Wissenschaftsfreiheit unmittelbarer.

Der jüngste Hotspot, wo Wissenschaftsfreiheit unter Druck steht, sind die USA. Gibt es von dort schon Anfragen für eine PSI-Förderung?

Robert Schlögl: Wir haben bislang eine einzelne Anfrage aus den USA erhalten. Eines möchte ich ganz deutlich sagen: In Deutschland wird in Debatten mitunter nahegelegt, die Lage in Russland und die in den USA seien in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit vergleichbar. Doch das sind sie eindeutig nicht. Trotz aller Bedenken und aller Diskussionen, die wir führen, sind die Unterschiede erheblich.

Und dann ist da natürlich noch China, ein Land ohne freie Forschung aber mit einem enormen wissenschaftlichen Output. Ist das nicht ein Widerspruch?

Robert Schlögl: China ist ein besonders interessanter Fall. Die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit dort wird aufgrund der schieren Größe des Wissenschaftssystems in gewisser Weise toleriert. Wenn ich mit Menschen spreche, bringen sie die Auswirkungen der gravierenden Probleme Chinas nicht mit fehlender Forschungsfreiheit in Verbindung. Das reine Ausmaß an wissenschaftlichen Aktivitäten und Möglichkeiten führt dazu, dass die repressiven Aspekte – etwa der Gedanke, dass die Kommunistische Partei sämtliche wissenschaftlichen Prozesse kontrolliert – kaum zu spüren sind.

Robert Quinn: Ich möchte hinzufügen, dass man zwischen der grundlegenden Ausgangslage beim Thema Freiheit und sichtbaren Vorfällen unterscheiden muss. In China ist die Ausgangslage bereits niedrig. Weniger repressive Vorfälle bedeuten nicht mehr Freiheit – sie bedeuten, dass die Repression effizient funktioniert. In den USA hingegen war die grundlegende Freiheit groß, dies ändert sich aber gerade immer schneller in eine negative Richtung.

„Wissenschaftler*innen werden selten wegen einer physikalischen Formel oder Entdeckung angegriffen – sondern weil sie hinterfragen.“
Robert Quinn, Executive Director des Scholars at Risk Network

Gibt es neben regionalen Unterschieden auch Unterschiede in Bezug auf die Forschungsgebiete? Und gibt es Fachgebiete, die besonders im Fokus stehen?

Robert Quinn: Die Wissenschaftsfreiheit ist quasi überall bedroht. Es ist ein Irrglaube, dass bestimmte wissenschaftliche Fachgebiete per se „sicher“ sind. Wissenschaftler*innen werden selten wegen des Inhalts einer physikalischen Formel oder einer medizinischen Entdeckung angegriffen – sondern weil sie hinterfragen. Wir beobachten heute erhöhte Risiken in Disziplinen, die sich mit Gender, Identität, sozialer Gerechtigkeit, Minderheitenrechten und Sprachen befassen. Diese Bereiche werden als politische Hebel genutzt – nicht wegen der Forschung an sich, sondern weil sie sich als kulturelle Symbole mobilisieren lassen.

Robert Schlögl: Fachgebiete, die näher an der politischen Macht oder nationalen Sicherheit angesiedelt sind – etwa die Molekularbiologie, die Kernphysik oder verteidigungsrelevante Forschung – stehen auch stark im Fokus. Aber entscheidend ist nicht das Fachgebiet, es ist die Nähe zu umstrittenen Themen. Wo Wissen auf Ideologie trifft, entstehen Risiken.

Die Philipp Schwartz-Initiative arbeitet eng zusammen mit Scholars at Risk und dem Scholar Rescue Fund. Wie funktioniert diese Zusammenarbeit?

Robert Schlögl: Die Zusammenarbeit ist grundlegend. Die Philipp Schwartz-Initiative wäre nicht wirksam ohne die internationalen Netzwerke, die Gefährdungsfälle identifizieren und bewerten. Scholars at Risk stellt seine Expertise, Frühwarninformationen und globale Advocacy-Netzwerke zur Verfügung. Unsere Zusammenarbeit reicht von ganz praktischen Fragen wie Gefährdungseinschätzungen bis hin zu gemeinsamem öffentlichen Engagement für das Thema Wissenschaftsfreiheit.

Robert Quinn: Unsere Kollaboration ist nicht nur operativ, sie ist auch strategisch. Die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit muss über alle Grenzen hinweg erfolgen, so wie sich die Bedrohungen auch über alle Grenzen hinweg ausbreiten. Die Philipp Schwartz-Initiative ist dabei ein zentraler Partner, auch im Rahmen von europäischen Projekten zum Schutz des wissenschaftlichen Raums.

In Deutschland nehmen Universitäten PSI-Stipendiat*innen auf. Möchten Sie nach zehn Jahren einige dieser Universitäten hervorheben, die sich in dieser Zeit besonders engagiert haben?

Robert Schlögl: Nein – und das ist eine Stärke. Über 140 Universitäten und Forschungseinrichtungen haben PSI-Stipendiat*innen aufgenommen. Die Unterstützung ist also breit gestreut. Wir erleben auch keine institutionellen Vorbehalte wie „Das ist uns zu riskant oder zu politisch“. Das ist bemerkenswert – und es ist nicht garantiert, dass dies so bleibt, falls sich die politische Haltung gegenüber der Wissenschaft ändert. 

„Wissenschaft ist kein Nice-to-have oder Luxusgut. Sie ist die Grundlage einer lebendigen Gesellschaft.“
Robert Schlögl, Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung

Genau deshalb wird viel über die Resilienz unseres deutschen Wissenschaftssystems diskutiert. Welche Verantwortung tragen wissenschaftliche Institutionen, aber auch Politiker*innen, um Skepsis und Anfeindungen entgegenzuwirken?

Robert Quinn: Die Universitäten haben die Verantwortung, deutlich zu machen: Was versteht man unter Wissenschaftsfreiheit? Und warum ist Wissenschaftsfreiheit so wichtig? Nicht auf abstrakter, konstitutioneller Ebene, sondern als etwas, das eng mit der Qualität des täglichen öffentlichen Lebens verbunden ist. Die Botschaft darf nicht sein: „Unterstützt uns, weil wir wichtig sind.“ Die Botschaft muss lauten: „Wir dienen der Gesellschaft, indem wir ihr helfen, Unsicherheiten zu bewältigen.“ Und dieser Dienst erfordert manchmal Mut.

Robert Schlögl: In Deutschland sehe ich einen politischen Trend, Wissenschaft als etwas Optionales zu betrachten – als etwas, das finanziert werden kann, wenn die Mittel es zulassen. Einige Politiker*innen haben den Eindruck, dass wir uns mehr um die Verteidigung und soziale Fragen kümmern müssen. 

Aber Wissenschaft ist kein Nice-to-have oder ein Luxusgut. Sie ist die Grundlage einer lebendigen Gesellschaft. Eine solche Entwicklung ist gefährlich. Die Wissenschaftsfreiheit ist der Gradmesser für die Freiheit der Gesellschaft. Wenn dieser Gradmesser geschwächt wird, verliert die Gesellschaft ihre Orientierung.

Die Zukunft der Wissenschaftsfreiheit

Lassen Sie uns zum Schluss einmal zehn Jahre in die Zukunft schauen. Was wäre erforderlich, um eine Renaissance der Wissenschaftsfreiheit zu erreichen?

Robert Quinn: Der wichtigste Faktor ist die sichtbare Unterstützung derjenigen, die bedroht sind. Der Schutz betroffener Wissenschaftler*innen macht anderen Mut. Werden sie im Stich gelassen, verbreitet das Angst. Forschungs- bzw. Wissenschaftsfreiheit braucht rechtliche Garantien, starke Institutionen und kulturelle Legitimität – vor allem aber Menschen, die den Mut haben zu denken. 

Ich unterstütze die Idee einer Renaissance, nicht nur für den Hochschulbereich, sondern für eine Menschheit, die sich an den Idealen von Wahrheit, Schönheit, Kultur und Würde orientiert. Universitäten müssen der Gesellschaft helfen, mit Komplexität umzugehen und einen differenzierten Blick auch für die Nuancen zu bewahren – in einer Welt, in der Medien und Technologien diese Differenziertheit oft untergraben. Programme wie die Philipp Schwartz-Initiative sind unverzichtbar, weil sie Leben retten – und den Mut erhalten, den andere brauchen, um weiterhin frei denken zu können.

Robert Schlögl: Und Wissenschaftler*innen müssen Zuversicht verkörpern. Wir sollten uns nicht in Zynismus oder defensive Selbstrechtfertigung zurückziehen. Die Wissenschaft kann vorleben, wie man konstruktiv mit Komplexität und Meinungsverschiedenheiten umgeht. Wenn wir dies vermitteln – nicht nur durch Grundsatzpapiere, sondern auch durch menschliches Vorbild –, wird die Gesellschaft wiederentdecken, warum sie uns braucht.

 

Das Interview zum Thema Wissenschaftsfreiheit wurde von Table.Briefings-Redakteur Tim Gabel geführt und ist zuerst im Research.Table erschienen.

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