Schwerpunkt

Das Geheimrezept

Siebzig Jahre zwischen Tradition und neuen Ideen. Oder: Weshalb die Humboldt-Stiftung wie Coca-Cola ist.

  • vom 
  • Text: Georg Scholl
Illustrationsfoto: Grafisch verfremdete Coca-Cola-Flasche

Eine Chronologie von 70 Jahren Stiftung 

Es gibt nicht viele internationale Marken, die sich in den vergangenen 70 Jahren treu geblieben sind. Marktbedingungen verändern sich immer rascher und radikaler. Disruption mischt die Karten neu. Firmen, die nicht schnell genug auf technischen Wandel reagieren, verschwinden. Deshalb sind ehemalige Marktführer wie der Filmhersteller Kodak
Geschichte. Oder sie sind, so wie der finnische Hersteller Nokia, bedeutungslos in ihrer ehemaligen Paradedisziplin. Selbst heute mächtige Techfirmen wie Meta (ehemals Facebook) oder Alphabet (Google) sorgen sich, wie lange ihr Geschäftsmodell noch tragen mag, da KI die Onlinewelt verändert.

Wollte man die Alexander von Humboldt-Stiftung mit einer Marke vergleichen, dann vielleicht mit Coca-Cola. Der amerikanische Konzern verkauft seit Jahrzehnten weltweit erfolgreich Limonade. Mal mit Zucker und Koffein, mal ohne, aber im Grunde bis heute unverändert nach dem gleichen angeblich in einem Tresor verstauten Geheimrezept. Wie der Softdrinkgigant hat die Stiftung ihr Angebot seit ihrem Gründungsjahr 1953 nie grundlegend geändert: Sie vergibt Stipendien und Preise an talentierte Nachwuchsforschende und Spitzenwissenschaftler*innen aus der ganzen Welt, die mit der Förderung der Stiftung nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten und Teil eines weltweiten Forschungsnetzwerks zu werden. Woran liegt es, dass dieses Angebot bis heute erfolgreich ist? Hat auch die Stiftung ein eigenes, streng gehütetes Geheimrezept? Der erste Teil der Erfolgsformel hat wenig Geheimnisvolles. Es sind die Anpassungsfähigkeit der Stiftung und der Wille, Veränderungen anzutreiben (siehe Zeitleiste): von der Erfindung der Willkommenskultur über die Einführung der millionenschweren Alexander von Humboldt-Professur zur strategischen Internationalisierung deutscher Universitäten bis hin zu Schutzprogrammen für bedrohte Forschende oder dem Crowd Reviewing, das das Gutachtensystem entlasten soll.

Forschung als Mittel der Völkerverständigung und der Diplomatie
Die Humboldt-Stiftung pfegt ein Netzwerk in mehr als 140 Ländern.

Der zweite Teil der humboldtschen Erfolgsformel beinhaltet dagegen Zutaten, die in ihrer Zusammensetzung einzigartig und seit 70 Jahren tatsächlich unverändert sind. Anders als die meisten Forschungsförderer unterstützt die Stiftung nämlich keine Projekte, sondern Personen. Und dies dauerhaft, meist ein ganzes Forscherleben lang. Sie schenkt Vertrauen und Freiheit ohne Ansehen von Disziplinen oder Nationalitäten und pflegt ein Netzwerk in mehr als 140 Ländern. Zugleich betrachtet sie Forschung als Mittel der Völkerverständigung und der Diplomatie. Dabei ist das Konzept der Annäherung durch Dialog zuletzt in die Kritik geraten. Bedeuten der Krieg Russlands gegen die Ukraine, Systemkonflikte mit Staaten wie China und der Trend zur Deglobalisierung eine Disruption, die die Art der grenzüberschreitenden Forschungszusammenarbeit grundsätzlich verändern kann und damit auch das Erfolgsrezept der Humboldt-Stiftung?

Die Stiftung reagiert hierauf, indem sie ihre Instrumente schärft, um faire Zusammenarbeit in puncto Datenschutz und geistiges Eigentum zu sichern und Fälle von Dual Use, also die militärische Anwendung von Forschungsergebnissen, auszuschließen. Doch an ihrer Grundformel will sie nichts verändern. Sie setzt weiter auf internationalen Austausch und die Freiheit der Wissenschaft. Die anhaltend hohe Nachfrage nach Humboldt- Stipendien, das Renommee, die in Evaluationen belegte positive Wirkung auf den wissenschaftlichen Ertrag und die grenzüberschreitende Vernetzung sowie nicht zuletzt das positive Feedback der Geförderten selbst belegen die Wirksamkeit und Attraktivität der Rezeptur. Vertrauen, Freiheit und unterschiedliche Perspektiven befeuern wissenschaftliche Leistung und Kreativität. Beides wird dringend benötigt, um die grenzüberschreitenden Herausforderungen zu bestehen, seien es der Klimawandel, alternde Gesellschaften, Pandemien oder die gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Techniken wie der künstlichen Intelligenz. Die Marke Humboldt wird weiter gebraucht.

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