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Wie konnte es geschehen? Während dieser Tage hunderttausende Menschen in Deutschland auf die Straße gehen, um rechtem Denken ihre Stimme entgegenzusetzen, breitet sich der Hass in Europa und der Welt weiter aus. Es ist ein Hass, der sich auch gegen Jüdinnen und Juden richtet, der sich in antisemitischen Reden äußert, den öffentlichen Diskurs vergiftet und schon einmal zur Katastrophe geführt hat.
Der Humboldtianer Marc Sagnol hat sich immer wieder besonders mit der deutsch-französischen und der osteuropäischen Geschichte der jüdischen Bevölkerung und dem Schicksal von Autor*innen in der NS-Zeit beschäftigt. 2023 hat er mit dafür gesorgt, dass das Audio-Archiv zum „Shoah“-Film von Claude Lanzmann in das Weltkulturerbe aufgenommen wurde. In seinem eigenen Werk geht Sagnol auf Spurensuche nach dem „vergessenen Holocaust“ in Moldawien, der Ukraine, Russland und Polen. Denn es ist geschehen – überall. Anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus haben wir den Humboldt-Forschungsstipendiaten gefragt, warum es besonders in diesen Tagen wichtig ist, die Erinnerung an die Shoah wach zu halten.
Humboldt-Stiftung: Herr Sagnol, was bedeutet Ihnen persönlich der Holocaust-Gedenktag?
Marc Sagnol: Obwohl es in meiner Familiengeschichte – trotz jüdischer Wurzeln aus Osteuropa, die mich seit langem beschäftigt haben – keine direkten Opfer der Shoah gibt (mein Großvater konnte vor dem Krieg nach Frankreich und dann von dort nach Algerien fliehen), hat mich seit meiner Jugend und dem jungen Erwachsenenalter der Gedanke der unwahrscheinlich schnellen, perfektionierten, industrialisierten und beinahe totalen Vernichtung des jüdischen Volks im zweiten Weltkrieg umgetrieben und sehr betroffen gemacht. Die Ausrottung von ganzen Familien, von ganzen Dörfern und Städten, von Ghettos und Lagerinsassen, die Vernichtung einer ganzen Kultur, einer Sprache und Literatur, hat mich stark bewegt. Schon im Alter von 20 Jahren bin ich durch Polen gereist und habe dort in vielen Dörfern stillgelegte Synagogen und verwilderte Friedhöfe entdeckt, die von der früher hohen Kultur und von ihrem Untergang zeugten.
Welche Orte haben Sie auf Ihren Reisen besonders geprägt?
Durch meine berufliche Laufbahn bin ich viel in die Ukraine, nach Weißrussland und Russland gereist und habe dort unzählige Orte der Vernichtung gesehen – nicht nur die bekannten wie Babi Jar, sondern auch vergessene und kaum mehr gepflegte Orte wie den Wald von Lisinitschi bei Lemberg, den Wald von Bronnitza bei Drohobytsch, den Ort Bronnaja Gora, 80 km von Brest, den Wald von Ponary bei Vilnius, Vernichtungsorte in Kamenez Podolski, in Rowno („Sosonki“), in Berdytschiw, in Petschera am Bug, in Bogdanowka am Bug, in Charkiw („Drobytzki Jar“), in Taganrog („Petruschino“). Ich denke auch an Rostow am Don, jene fürchterliche „Schlangenschlucht“, in der unter anderem die Psychoanalytikerin und Jung-Schülerin Sabina Spielrein zusammen mit 20.000 Menschen umgekommen ist. Das alles hat mich sehr berührt, weil diese Orte heute kaum noch bekannt sind.
Marc Sagnol, ursprünglich aus Frankreich, ist Philosoph, Schriftsteller, Fotograf und Filmregisseur. Er kam 1990 mit einem Humboldt-Forschungsstipendium erst nach Frankfurt am Main und dann nach Berlin und Potsdam. Sagnol war Mitarbeiter der Redaktion von Les Temps Modernes sowie Leiter des Institut français in Dresden, Kiew, Moskau und Erfurt. Soeben erschien sein Buch Celan, Weißglas. Die Wasser des Bug (Aachen: Rimbaud 2024).
Sie haben eine besondere Beziehung zu Claude Lanzmann, dem französischen Dokumentarfilmregisseur, und konnten erst kürzlich als Vermittler bei der UNESCO für dessen Werk einen großen Erfolg feiern. Erzählen Sie uns davon.
Der Film von Claude Lanzmann, „Shoah“, hat mich sehr beeinflusst. Ich habe ab 2000 mit Claude Lanzmann zusammengearbeitet, zuerst bei den Dreharbeiten von „Sobibor“ in Weissrussland, dann in der Zeitschrift "Les Temps Modernes" in Paris. Der Film „Shoah“ wurde im Mai 2023 in einer gemeinsamen deutsch-französischen Bewerbung in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen. Ich konnte zusammen mit Susanne Zepp-Zwirner (Universität Duisburg-Essen), Dominique Lanzmann, der Vorsitzenden der Association Claude et Felix Lanzmann (Paris), und dem Jüdischen Museum Berlin diesen Schritt erfolgreich vermitteln und bin sehr stolz, dass es uns gelungen ist, das Schaffen Lanzmanns auf diese Weise zu ehren. Das Werk ist wie ein literarisches Monument, vergleichbar mit Homers „Ilias“, und sagt mehr über den Gegenstand als tausend wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema.
Und doch haben auch Sie sich wissenschaftlich mit der Shoah auseinandergesetzt. Wie genau?
In meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich mich indirekt mit dem Thema beschäftigt, sowohl in meinen Forschungen über Walter Benjamin, wo ich die Bedeutung der Trauer und der Tragik in der deutschen philosophischen Tradition herausarbeite als auch in meinen literarischen Arbeiten zu Paul Celan, Bruno Schulz, Franz Kafka, oder auch zu Immanuel Weißglas oder Selma Meerbaum. Mein gerade erschienenes Buch „Celan, Weißglas: Die Wasser des Bug“ ist unter anderem durch die Förderung der Alexander von Humboldt-Stiftung entstanden.
Warum ist es nach wie vor und besonders in heutigen Zeiten so wichtig, an den Holocaust zu erinnern?
Der Holocaust, oder die Shoah, wie man heute in Frankreich und in weiteren Ländern sagt, bedeutete eine Zäsur in der europäischen Geschichte. Es ist eines der wichtigsten Ereignisse der Geschichte überhaupt, das Ereignis des 20. Jahrhunderts. Der Kern des zweiten Weltkrieges sind nicht nur die Schlachten, sondern in erster Linie die Shoah – das, was gegen die schutzlose Bevölkerung, bestehend vor allem aus Greisen, Frauen und Kindern, vor aller Augen verbrochen wurde – während die Heere im Osten kämpften.
Heutzutage vergisst man das allmählich. Das Pogrom vom 7. Oktober in Israel erinnert uns daran, dass das Grausame wieder kommen kann und dass es auch sofort bagatellisiert wird. Dass die Täter von einem Teil der Öffentlichkeit „entschuldigt“, geschützt, ihre Argumente von hohen Ämtern übernommen und ihre Akte imitiert werden. Insofern ist es wichtig, zu erinnern und zu zeigen, wozu so etwas geführt hat, damit es nicht wieder geschieht – auch wenn dieser Wunsch vielleicht leider utopisch ist.