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Proteste im Iran: Mit Kunst gegen das System

Der Iran erlebt derzeit eine der größten Protestwellen seit Jahrzehnten. Die Humboldt-Stiftung verurteilt nachdrücklich die Gewalt durch iranische Sicherheitskräfte, welche auch friedlich Demonstrierende an den Hochschulen trifft. Ein Gespräch mit der iranischen Humboldtianerin Raika Khorshidian über Protestformen, Kommunikationsmöglichkeiten und den Einfluss der Kulturszene im Iran.

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Proteste Iran 2022
Kein Internet im Iran – doch weltweit unterstützen Menschen die Proteste im Land
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

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Straßenkämpfe zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften, brennende Barrikaden, Frauen zünden ihre Kopftücher an. Alle skandieren: „Frauen, Leben, Freiheit!“ Die sozialen Netzwerke sind voll mit Videos solcher Szenen aus dem Iran. Auslöser der Proteste ist der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini am 16. September 2022. Sie war wegen ihrer – angeblich nicht den islamischen Regeln entsprechenden – Kleidung von der Sittenpolizei festgenommen worden und verstarb, nachdem sie unter unklaren Umständen ins Koma gefallen war. Wann und wo die Videos, die jetzt kursieren, gefilmt wurden, lässt sich kaum überprüfen. Aber es wären wohl noch viel mehr im Umlauf, wenn das Internet im Land nicht kontrolliert würde. Welche Kommunikationsmöglichkeiten und Perspektiven bestehen und welche Rolle die Kunst- und Kulturszene bei den Protesten spielt, erklärt die gegenwärtig in Deutschland forschende Kulturwissenschaftlerin Raika Khorshidian.

Humboldt-Stiftung: Der Internetzugang im Iran ist häufig unterbrochen, um die Organisation von Demonstrationen zu verhindern. Wie halten Sie aus Deutschland Kontakt zu Ihren Freund*innen und Verwandten?
Raika Khorshidian: Aktuell schaltet die Regierung das Internet im Iran ab vier Uhr nachmittags ab. Aber auch durch gedrosselte Internetgeschwindigkeit oder Sperrung von Apps wird versucht, die Verbreitung von Informationen zu kontrollieren. Bis zu der aktuellen Protestwelle benutzten die meisten Leute WhatsApp und Instagram, aber das letzte im Iran verfügbare soziale Netzwerk ist inzwischen auch gesperrt worden. Sogar außerhalb des Irans gibt es Probleme. Ich habe einige Freunde, die in Deutschland iranische Nummern besitzen und den Eindruck haben, dass sie WhatsApp nicht zuverlässig benutzen können.

Wie schätzen Sie Ihre eigene Situation ein: Könnte dieses Interview für Sie ein Risiko bedeuten?
Seit Sie mich um ein Interview über die aktuelle Situation im Iran baten, habe ich immer wieder Albträume über mögliche Konsequenzen, sobald ich mit meinem Mann und meinen Kindern aus Deutschland in den Iran zurückkehre. Ich schweige jedoch nicht und ziehe mich nicht auf meine Rolle als Forscherin zurück, während Millionen Iraner*innen weiterhin Albträume von Inhaftierung und Folter erleben. Die iranischen Menschen sind in den letzten Jahren mutiger geworden. Jetzt nehmen die Frauen im Iran das Kopftuch vor den Augen der Sittenpolizei ab – mit allen Gefahren, die damit verbunden sind. Wenn ich hier ein Interview gebe, ist mein Risiko, Repressalien zu erleben, aktuell geringer als das dieser Frauen. Ich muss meine Stimme erheben, damit es einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt: für meinen Traum von der Rückkehr in einen freien Iran, für den Traum der nächsten Generation.

Geht es bei den Protesten mittlerweile um mehr nur als Frauenrechte, wie etwa um die wirtschaftlichen Probleme des Landes? Woher kommt das enorme Selbstbewusstsein der Protestierenden?
Es ist klar, dass die Menschen nicht nur gegen die Hidschab-Pflicht protestieren, sondern gegen ein Symbol für 40 Jahre Unterdrückung in allen Gesellschaftsbereichen, für mehr als 40 Jahre des Tötens. Der Protest beschränkt sich aktuell nicht mehr auf Großstädte, er reicht bis in kleinste Dörfer. Das Problem ist nicht nur die Armut im Iran, sondern dass die Menschen Ideen für ihr Leben haben, deren Umsetzung ihnen vom Regime verwehrt wird. Sie haben in den letzten Jahren aus den sozialen Medien gelernt, dass es noch andere Iraner*innen mit diesen Freiheitsvorstellungen gibt, und sie wissen, was im Rest der Welt passiert.

 
„For Minoo Majidi"
Collage von Sara Shoghi zu den Protesten im Iran 2022

Wie ist die Situation im Wissenschaftssystem?
Wie ich bisher in Erfahrung bringen konnte, sind viele Universitätsprofessor*innen und Studierende in den Streik getreten. Zuletzt wurden Studierende verhaftet und erschossen. Ich bin auch um die Sicherheit der Lehrenden sehr besorgt. Vor 12 Jahren, während der Grünen Bewegung, die nach den Präsidentschaftswahlen 2009 die Absetzung von Mahmud Ahmadinedschad forderte, wurden viele von ihnen unter falschen Beschuldigungen entlassen und einige starben bei Protesten.

Offener Protest birgt also ein hohes Risiko: Welche Rolle spielen kreative Protestformen und die Kunst- und Kulturszene?
Ich habe so viele Grafiken, Cartoons und Bilder gefunden, die die Repressalien und Todesfälle verarbeiten und vielfach in den sozialen Medien geteilt werden. So dokumentieren beispielsweise einige Künstler*innen unter dem Hashtag „mahsaamini” auf Instagram die aktuellen Ereignisse. Sie veröffentlichen jeden Tag Bilder von getöteten Demonstrierenden, um die Erinnerung an sie zu bewahren. So werden auch zunächst unbekannte Opfer, wie ein 15-jähriges Kind aus dem kleinen Dorf in Urumie, und die Ausbreitung der Proteste in ländlichen Gemeinden sichtbar. Vielleicht sind die Betreiber*innen des Accounts inzwischen verhaftet, denn jede sichtbare Unterstützung der Bewegung über die sozialen Medien wird verfolgt.

Kunstwerk von Amir Samavat zu den Protesten im Iran 2022
 
The Last Scene"
Kunstwerk  von Amir Samavat zu den Protesten im Iran (70 x 100 cm, Mischtechnik, flexibler Zement auf Leinwand)

Können die jüngsten Inhaftierungswellen das endgültige Ende für die künstlerische Freiheit bedeuten?
Es gibt zahlreiche Menschen weltweit, die ihre Solidarität zeigen wollen, aber die Protestierenden im Iran – vor allem Sänger*innen, Schauspieler*innen, Designer*innen, Maler*innen–kämpfen mit ihrer Kunst damit gegen das System. Einige von ihnen wurden verhaftet, wie Shervin Hajipour, dessen Protestlied zum Soundtrack des Bürgeraufstands wurde. Das Erfassen der meisten dieser künstlerischen Proteste setzt ein klares Verständnis von künstlerischem Protest und den verwendeten Codes voraus, sodass viele Zensierende die Botschaften nicht erkennen. Sie denken innerhalb der Logik der Diktatur und können die verschiedenen Ebenen eines Kunstwerks oft nicht verstehen. Doch obwohl es seit Jahren Restriktionen gegen die Kunstszene gibt, sind in den letzten fünf Jahren viele neue Galerien entstanden. Dort teilen die Menschen ihre Ideen mit anderen und sprechen über Probleme – die Galerien sind zu Versammlungsorten für Aktivist*innen geworden.

Was können die Europäische Union und insbesondere die europäische Wissenschaftsgemeinschaft tun, um iranische Dissident*innen und die Zivilgesellschaft zu unterstützen?
Finanzielle und wirtschaftliche Sanktionen haben die Regierung nicht eingeschränkt, denn wenn die Regierung kein Geld hat, nimmt sie es sich von den Menschen. Bloße Solidarität aus dem Ausland ist auch nicht genug. Viele Politiker*innen äußern sich zum Tod von Mahsa, aber gleichzeitig kann der iranische Präsident in die USA reisen und der ganzen Welt seine Meinung über die Proteste mitteilen, während er Menschen im Iran töten lässt. Die Bewegung zielt entschlossen darauf ab, das korrupte Regime zu ändern und eine säkulare Regierung einzusetzen, die weder ihre Bürger noch andere Länder bedroht. Es gibt keine Hoffnung auf Reformen, und die Iraner wollen, dass die Europäische Union die Behörden der Islamischen Republik Iran wegen ihrer kriminellen Aktivitäten sanktioniert. Über vierzig Jahre lang haben sie Iraner*innen in ihrem Heimatland und in der Diaspora angegriffen und getötet, ausländische Staatsangehörige oder solche mit doppelter Staatsangehörigkeit entführt. Wenn es keine globale Koalition zur Beendigung dieses Regimes gibt, werden diese Fälle weiterhin vorkommen.
Kommunikationsmöglichkeiten sind entscheidend, weshalb die Nachricht über eine eventuelle Unterstützung durch Elon Musk und das satellitenbasierte Internet vielen Iraner*innen Hoffnung gab. Die europäischen Wissenschaftsinstitutionen wie die Humboldt-Stiftung wiederum könnten gezielt Studien über die blinden Flecken fördern und insbesondere solche Wissenschaftsbereiche wie Geschichte, Politik, Ethnographie und Soziologie, die aufgrund der Zensur des Regimes vernachlässigt wurden, unterstützen. Die Freiheit des Irans kann die Zukunft von Millionen Iraner*innen verändern, ob im Iran oder im Ausland, und verspricht auch einen friedlicheren Nahen Osten.

Die Proteste in den letzten Jahren fokussierten sich meist auf einen gesellschaftlichen Aspekt. Haben die heutigen deshalb eine andere Qualität?
Vor 12 Jahren ging es der Grünen Bewegung nur um eine Veränderung nach der Wahl, heute richten sich die Proteste gegen das gesamte System. Es wird zum ersten Mal die Frage gestellt, warum man es dem Regime gestattet, den Körper und den Geist der Menschen zu kontrollieren. Die Regierung versucht zu argumentieren, dass Frauen und Männer unterschiedlich seien und die Gesellschaft unsicherer werde, wenn Frauen keine Kopftücher tragen. Aber eigentlich ist es so, dass die Gesellschaft sicher ist und die Sittenwächter sie unsicher machen. Heute kämpfen Frauen und Männer gemeinsam für die Rechte der Frauen und das Recht auf Freiheit – das ist der größte Unterschied.

In den iranischen Staatsmedien sehen wir oft Beispiele für Proteste zur Unterstützung des Regimes und des Vorgehens der Sittenpolizei. Wie bewerten Sie das?
Ich weiß, dass es in einigen staatlichen Organisationen einen Zwang gibt, zu solchen Versammlungen zu gehen. Außerdem habe ich viele Bilder gesehen, die mit Photoshop bearbeitet wurden, damit die regimetreuen Ansammlungen größer erscheinen als sie eigentlich waren.

Viele haben noch die Bilder von den gescheiterten Demokratiebewegungen aus dem Arabischen Frühling und auch aus dem Iran im Kopf. Bislang sind fast alle Proteste nach einer gewissen Zeit niedergeschlagen worden. Könnte es dieses Mal anders sein?
Ich bin keine Politikerin, sondern Kulturwissenschaftlerin. Aber es gibt wirklich Hoffnung in dieser Zeit, weil die Iraner*innen die Stimme gegen das ganze System erheben. Außerdem gibt es unter den Demonstrierenden keine*n Anführer*in, deshalb ist diese Bewegung komplexer und schwerer zu unterdrücken. Die Menschen haben in den letzten Jahren durch die unglaublich hohe Inflation unter Armut gelitten. Aber sie protestieren nicht deshalb, sondern sie wollen Entscheidungsfreiheit für alle Frauen, für alle Bürger*innen des Iran. Das ist das Schöne an diesem Protest.

Raika Khorshidian


Dr. Raika Khorshidian ist Georg Forster-Forschungsstipendiatin an der Universität Duisburg-Essen (2021-2023). Ihre Forschungsschwerpunkte sind iranische Gegenwartskunst, Migration und Identität. In ihrem Projekt mit dem Titel „From National to Transnational Art: Displacement, Identity and Belonging in Iranian Contemporary Art“ hat sie die Konzepte von Ort, Entfremdung, Vertreibung und Mehrfachidentitäten erforscht, um den Wandel der Identitäten iranischer Künstler*innen durch eine Analyse ihrer Werke und Biografien zu erklären. Von 2018 bis 2021 wirkte sie als Künstlerin und Kuratorin in Teheran. Außerdem arbeitete sie als unabhängige Kunstjournalistin und veröffentlichte Kritiken und Zeitungsartikel. Während ihrer Promotion an der Universität von Tarbiat Modares, Teheran, führte sie kulturübergreifende Studien zu Kunst in Brasilien, China, Japan und dem Iran durch.

(aktualisiert am 07.10.2022)

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