Zugänge, Barrieren und Potentiale - Internationale Mobilität von Wissenschaftlerinnen

Welches Potential an Forscherinnen gibt es weltweit, die international mobil sind und für einen Forschungsaufenthalt in Deutschland gewonnen werden könnten? Was fördert ihre internationale Mobilität? Und was hindert Frauen daran, weltweit zu forschen? Das Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung (CEWS) am GESIS Leibniz- Institut für Sozialwissenschaften hat im Auftrag der Alexander von Humboldt-Stiftung Chancen und Herausforderungen untersucht.

Illustration einer Gruppe diverser Frauen

Ziel und Zweck der Untersuchung

Zentrales strategisches Ziel der Alexander von Humboldt-Stiftung ist die Förderung von Diversität in Wissenschaft und Forschung sowie im Netzwerk der Stiftung. Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit sind wesentliche Bausteine dessen – denn auch im Netzwerk der Stiftung zeigt sich die sogenannte „Leaky Pipeline“: Rund ein Drittel der Geförderten sind Frauen. Insbesondere in Förder- und Preisprogrammen, die sich an Forscher*innen auf sehr hohen Karrierestufen richten, sind Frauen unterrepräsentiert. Und auch in Bezug auf die Herkunft der Humboldtianerinnen sind die verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich vertreten.

Die Analyse soll ermitteln, wie groß das Potential an herausragend qualifizierten und international mobilen Wissenschaftlerinnen weltweit ist, für die ein Forschungsaufenthalt in Deutschland in Frage kommen könnte und wie ihre spezifischen Bedarfe aussehen. Zugleich wurden ausgewählte Programme der Humboldt-Stiftung unter geschlechterspezifischen Aspekten betrachtet und Handlungsempfehlungen entwickelt, um mehr hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen für einen Forschungsaufenthalt in Deutschland zu gewinnen.

Saturn-ähnliches Dekortationsbild

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Methodik

Für den Ländervergleich hat CEWS Daten in Zusammenarbeit mit internationalen Expert*innen zu den Forschungs- und Hochschulsystemen in weltweit 14 Ländern ausgewertet und ergänzend Interviews geführt: Algerien, Chile, Indien, Kolumbien, Marokko, Mexiko, Niederlande, Nigeria, Polen, Spanien, Südafrika, Tunesien, USA und das Vereinigte Königreich.

Für die Programmanalysen wurden Dokumente der Humboldt-Stiftung ausgewertet und Interviews mit Mitarbeiter*innen der Geschäftsstelle sowie gastgebenden Forscher*innen in Deutschland geführt. Daneben wurden Referenzdaten von Förderprogrammen anderer Institutionen wie beispielsweise dem European Research Council (ERC) herangezogen.

Ergebnisse und Empfehlungen

Der Vergleich zur Repräsentanz von Frauen auf den verschiedenen Stufen der Wissenschaftskarrieren in den untersuchten Ländern sowie zu den Referenzdaten gibt Anhaltspunkte, dass derzeit das Potential an qualifizierten Forscherinnen mit den Programmen der Humboldt-Stiftung noch nicht ausgeschöpft wird. Dies gilt insbesondere für Algerien, Indien, die Niederlande, Nigeria, Südafrika, Tunesien und die USA

Frauen sind in den Wissenschaftssystemen der untersuchten Länder unterschiedlich stark repräsentiert – es zeigen sich aber länderübergreifend ähnliche Muster und Barrieren, die Frauen daran hindern, international mobil zu forschen:

  • Eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familien kann ein reales Hindernis für die internationale Mobilität von Frauen sein. Zugleich ist durch die Zuschreibung von Care-Aufgaben an Frauen die Annahme verbreitet, dass internationale Mobilität wegen familiärer Verpflichtungen für Forscherinnen grundsätzlich weniger in Frage kommt. Frauen werden dadurch seltener für internationale Forschungsaufenthalte überhaupt in Betracht gezogen.
  • Frauen sind häufiger mit institutionellen Hürden konfrontiert, weil sie überproportional oft auf Stellen beschäftigt sind, die mit geringeren Zeit- und Finanzressourcen für Forschung ausgestattet sind.
  • Wissenschaftlerinnen sind häufiger prekär beschäftigt und haben damit einhergehend eine fragilere Vernetzung. Dies führt dazu, dass eine temporäre Abwesenheit von der Heimatinstitution die Karriere gefährden könnte.
  • Zugleich werden geschlechtsspezifische Ungleichheiten durch weitere Faktoren wie etwa die soziale oder ethnische Herkunft verstärkt.

Männer kooperieren häufiger mit Männern, Frauen mit Frauen: Dieses Muster zeigt sich auch bei der Zusammenarbeit zwischen internationalen Geförderten und ihren wissenschaftlichen Gastgeber*innen in Deutschland im Humboldt-Netzwerk. Hier rät die Untersuchung, noch mehr Wissenschaftlerinnen als Gastgeberinnen zu gewinnen. Zudem sollten weiter Anreize gesetzt werden, damit männliche Gastgeber Frauen stärker als Kooperationspartnerinnen wahrnehmen, nominieren und betreuen.

Die Humboldt-Stiftung bietet für mitreisende Kinder und Ehepartner*innen Leistungen wie Familienzuschlägen oder Beihilfen zu den Kranken- und Haftpflichtversicherungskosten an. Insbesondere hochqualifizierte internationale Forscherinnen haben teilweise aber andere Bedarfe: Sie sind häufig kinderlos; wenn sie in einer Partnerschaft leben, haben sie seltener einen so genannten „portable partner“, wie die Studie es formuliert. Deshalb sind Dual Career-Möglichkeiten oftmals der größere Bedarf bei internationaler Mobilität. Zugleich empfiehlt die Untersuchung der Stiftung, für Rahmenbedingungen zu werben, um Familienleistungen auch auf nicht verheiratete hetero- wie homosexuelle Paare und weitere Personen ausweiten und unterschiedlichen Familienmodellen gerecht werden zu können.

Die bisherigen Gleichstellungsmaßnahmen der Humboldt-Stiftung zielen stark auf die Sensibilisierung und Sichtbarmachung von Frauen als (potentielle) Geförderte („Fixing the women“). Die Untersuchung empfiehlt, daneben künftig stärker die Gruppe der wissenschaftlichen Gastgeber*innen zu adressieren, strukturelle Ursachen und institutionelle Hürden in Wissenschaftssystemen zu berücksichtigen („Fixing the system“) und sich für eine Erhöhung von Gender-Kompetenz und Wissen einzusetzen („Fixing the knowledge“).

Wissenschaftliche Exzellenz zu fördern ist zentraler Anspruch der Humboldt-Stiftung. Die Untersuchung weist darauf hin, dass Exzellenz grundsätzlich kein neutraler, sondern ein vergeschlechtlichter Begriff ist – sowohl in Bezug auf die Selbsteinschätzung als auch auf die Fremdeinschätzung wie etwa bei der Anerkennung wissenschaftlicher Leistung. Es wird empfohlen, die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von wissenschaftlicher Exzellenz, Chancengleichheit und Diversität fortzuführen und Geschlechtergleichstellung/Diversität als Voraussetzung für Exzellenz noch stärker anzuerkennen.

Dossiers zu den Schlüsselländern

In Dossiers zu den 14 Schlüsselländern wurden im Rahmen der Untersuchung folgende länderspezifische Informationen zusammengestellt:

  • Kontextanalyse der Hochschulsysteme, u. a. zu Qualifikations- und Karrierestrukturen,
  • Teilhabe der Geschlechter, u. a. bei Studienabschlüssen, Promotionen und wissenschaftlichem Personal
  • geschlechterspezifische Aspekte von wissenschaftlichen Karrieren, u. a. zu Verbleib und Ausstieg aus der Wissenschaft, Ausschlussmechanismen

Die Dossiers als PDF-Download: Algerien, Chile, Indien, Kolumbien, Marokko, Mexiko, Niederlande, Nigeria, Polen, Spanien, Südafrika, Tunesien, Großbritannien und USA