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„2023: Die wichtigsten Wahlen in der Geschichte der Türkei“

Genau 100 Jahre nach Gründung der türkischen Republik steht 2023 ganz im Zeichen der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Wir haben zwei Wissenschaftlerinnen aus der Türkei gefragt, welche Bedeutung die Wahlen langfristig für die türkische Gesellschaft haben.

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Symbolbild: Wahlurne und türkische Flagge
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

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Rund 64 Millionen Türk*innen sind dazu aufgerufen, am 14. Mai ihre Stimme abzugeben und über die politische Zukunft der Türkei zu entscheiden. Eine Türkei ohne Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze dürfte für viele junge Türk*innen eine ungewohnte Vorstellung sein. Er ist seit über 20 Jahren an der Macht und hat den türkischen Staat kontinuierlich nach seinen Vorstellungen umgebaut. Doch die aktuelle Wahl könnte die Situation ändern. Es steht infrage, ob die regierende AKP und deren Wahlbündnis wiedergewählt werden. Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP und Gegenkandidat des Oppositionsbündnisses, liegt mit Erdoğan in aktuellen Umfragen beinahe gleichauf.

Welche Bedeutung hat die Wahl für die Zukunft der Türkei?
Wir haben zwei Wissenschaftlerinnen aus dem Humboldt-Netzwerk befragt. Die Politikwissenschaftlerin Dr. Ayşegül Kars Kaynar, Georg Forster-Forschungstipendiatin an der Humboldt-Universität zu Berlin, beschäftigt sich mit der Politik, Verfassungsgeschichte und Sicherheitspolitik ihrer Heimat. Die Soziologin Dr. Latife Akyüz forscht u.a. zu Grenz- und Identitätsfragen, Migration und Intersektionalität. Sie unterstützte die Academics for Peace (Barış İçin Akademisyenler, BAK), wurde infolgedessen aus dem Universitätsdienst entlassen und war gezwungen ihre Heimat zu verlassen. Mit einem Stipendium der Philipp Schwartz-Initiative konnte sie ihre Forschung in Frankfurt am Main fortsetzen.
Die Initiative der Humboldt-Stiftung zur Unterstützung gefährdeter Wissenschaftler*innen hat einen besonderen Bezug zur Geschichte der dortigen Goethe-Universität und der Türkei. Der namensgebende Frankfurter Professor Philipp Schwartz verlor nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Stellung und half zunächst aus seinem Zürcher, später seinem Istanbuler Exil, rund 1500 verfolgten Wissenschaftler*innen bei ihrer Flucht und dem professionellen Neuanfang im Ausland – für viele von ihnen in der Türkei.

Es ist eine Möglichkeit sich in Richtung Re-Etablierung der demokratischen Republik zu bewegen.
Dr. Ayşegül Kars Kaynar

Dr. Ayşegül Kars Kaynar

"Die bevorstehenden Wahlen am 14. Mai bedeuten viel für die Türkei. Sie gelten als letzte Chance, die AKP an der Regierung abzulösen, unter der das Land seit mehr als 20 Jahren steht. Es ist eine Möglichkeit sich in Richtung Re-Etablierung der demokratischen Republik zu bewegen. Nach jahrzehntelangem Leben unter einer autoritär islamistisch geprägten Herrschaft hat das türkische Volk auf bittere Weise gelernt, wie wertvoll ein egalitär aufgebautes politisches System ist, in dem alle Meinungen und unterschiedlichen Standpunkte gleichbehandelt werden, wie wertvoll eine unabhängige und unparteiische Justiz sowie eine friedliche Außenpolitik sind. Als eine unbeabsichtigte Folge des Präsidialsystems haben die Oppositionsparteien außerdem gelernt Koalitionen zu bilden und zusammenzuarbeiten. Die Wahlen vom 14. Mai werden ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den herrschenden Parteien und den Oppositionsparteien sein. Doch egal wer gewinnt – die Lektionen der Vergangenheit werden bleiben und das Schicksal der Türkei im zweiten Jahrhundert der Republik weiter prägen."

Georg Forster-Forschungsstipendium für Postdocs und erfahrene Forschende, die zur nachhaltigen Entwicklung beitragen 

Dr. Ayşegül Kars Kaynar

Ayşegül Kars Kaynar ist Georg Forster-Forschungsstipendiatin. Sie erhielt ihren Masterabschluss an der City University in London und erwarb einen Doktortitel am Politikwissenschaftlichen Institut der Middle East Technical University, Ankara. Im Anschluss arbeitete sie an der New School for Social Research und war Visiting Fellow am TürkeiEuropaZentrum der Universität Hamburg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit türkischer Politik, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Sicherheitspolitik und der Beziehung zwischen Militär und Gesellschaft. Sie hat zwischen 2018 und 2022 an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und arbeitet derzeit als Projektkoordinatorin bei der Association for Monitoring Equal Rights (AMER) und lehrt an der Atilim-Universität.


Dr. Latife Akyüz

"Die Türkei nähert sich den bedeutendsten Wahlen ihrer Geschichte. Seitdem sie an die Macht gekommen ist, hat die AKP gesellschaftliche Entfremdung verschärft, den Niedergang der staatlichen Institutionen beschleunigt sowie die Verbreitung politischer Korruption und sozialer Marginalisierung begünstigt. Wenn Erdoğan und die AKP wieder gewinnen, wird das Land im Hinblick auf Demokratie und Menschenrechte in einen Kipppunkt gebracht werden, der schwer rückgängig zu machen ist. Diese Wahlen werden entscheiden, ob die Demokratie der Türkei wieder hergestellt, ob Rechtsstaatlichkeit wieder aufgebaut werden kann, ob Unterdrückung, Gewalt und die vielfältigen Verletzungen der Menschenrechte gestoppt werden können. Schließlich werden sie bestimmend dafür sein, ob eine Diktatur oder eine demokratische Republik an der Grenze Europas liegen wird. Ich habe Hoffnung für das Letztere."

Philipp Schwartz-Initiative gefährdete Wissenschaftler*innen 

Dr. Latife Akyüz
Latife Akyüz promovierte 2013 an der Middle East Technical University in Ankara mit dem Thema "Ethnicity and Gender Dynamics of Living in Borderlands: The Case of Hopa-Turkey". Sie war Gastwissenschaftlerin an der Indiana University (2010), der Binghamton University (2011-12) und dem Center for Ethnic and Migration Studies, Liège University (2014). Von März 2014 bis 2016 arbeitete sie als Assistenzprofessorin an der Universität Duzce, als sie, wie viele andere Akademiker*innen in der Türkei, von ihrem Posten entlassen und gezwungen wurde die Türkei zu verlassen. Mit dem Philipp Schwartz-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung konnte sie von 2016 bis 2019 ihre Arbeit an der Goethe-Universität Frankfurt fortsetzen. Nach ihrem Aufenthalt als Einstein-Stipendiatin an der Humboldt-Universität zu Berlin (Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung) ist sie seit 2022 an der Europa-Universität Viadrina tätig.
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