Schwerpunkt Wissenschaftsfreiheit

Risiko Forschung: 10 Jahre Schutz für bedrohte Forschende

Darf Wissenschaft sich frei entfalten, dann klärt sie auf, regt an, findet Lösungen und kann Gesellschaften resilienter machen. Oft aber sind freie Forschung und Lehre nicht mehr möglich – und Wissenschaftler*innen geraten unter Druck und in Gefahr. Eine Perspektive gibt ihnen seit zehn Jahren die Philipp Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung.

  • vom 
  • Text: Nora Lessing
Ein von Raketen bombardierter Fakultätssaal in Charkiw, der symbolisch zeigt, wie Wissenschaftsfreiheit in Gefahr ist und was die Philipp-Schwartz-Initiative hier leistet.
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Charkiw, Ukraine, 24. Februar 2022: Russische Raketen zerstören die Fakultät für Physik und Technologie der Nationalen Wassyl-Karasin-Universität. Mit dem PSI-Notfonds Ukraine und ihrer Beteiligung am EU-Programm MSCA4Ukraine unterstützt die Humboldt-Stiftung gezielte Maßnahmen, um geflüchteter ukrainischen Forschenden schnell Hilfe zu leisten. (Titelbild)

Philipp Schwartz-Initiative – Schutz für bedrohte Forschende

Sie gehören zu den Vordenker*innen ihrer Länder. Ihre Forschung können sie vor Ort jedoch nicht fortsetzen. „Diese Menschen leisten beeindruckende Arbeit“, sagt Judith Wellen, Leiterin der Abteilung Strategie und Außenbeziehungen der Humboldt-Stiftung, in der die Philipp Schwartz-Initiative angesiedelt ist. „Doch dann zerstören Krieg und Gewalt ihre Universitäten und Labore. Andere werden unterdrückt, diskriminiert oder erfahren Missbrauch – wegen ihres Geschlechts, ihrer Ethnie, sexuellen Identität oder weil sie sich kritisch äußern.“

Seit ihrer Gründung im Jahr 1953 hat die Stiftung immer wieder Forschende unterstützt, die in ihren Herkunftsländern bedroht oder politisch verfolgt wurden – sei es während der Apartheid in Südafrika oder in Zeiten des Kalten Krieges. Auch aufgrund dieser Erfahrungen begann man in der Stiftung, sich mit maßgeschneiderten Angeboten für solche Wissenschaftler*innen auseinanderzusetzen, so Wellen.

Programm mit Signalwirkung

2015 gaben die Fluchtbewegungen aus Syrien und anderen Krisenregionen den Anstoß für ein gezieltes Programm. „Wir wollten Wege finden, betroffenen Wissenschaftler*innen eine Perspektive zu geben, damit sie ihre Forschung fortführen und ihr Wissen erhalten können“, erklärt Wellen. 

Mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes rief die Stiftung die Philipp Schwartz-Initiative (PSI) ins Leben. 2016 traten die ersten Geförderten ihre Stipendien an. In Europa war die Initiative in dieser Form damals einmalig und wurde bald zum Vorbild für weitere Programme. Heute zählt die Stiftung mit der Philipp Schwartz-Initiative zu den weltweit wichtigsten Akteuren beim Schutz gefährdeter Forschender und engagiert sich in EU-Projekten wie MSCA4Ukraine, Inspireurope oder SAFE.

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10 Jahre Philipp Schwartz-Initiative –

hier finden Sie die Chronologie!

Erste eindrucksvolle Bilanz der Philipp Schwartz-Initiative

Bislang haben mehr als 630 gefährdete Forschende aus über 30 Ländern (Stand Oktober 2025) in Deutschland eine neue wissenschaftliche Heimat gefunden. Unter anderem auch durch Sonderprogramme für Forschende aus der Ukraine, Afghanistan oder dem Iran, die die Stiftung gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt in Reaktion auf geopolitische Entwicklungen und Krisenherde kurzfristig eingerichtet hat. 

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Geförderte aus 31 Herkunftsländern (im PSI-Hauptprogramm ohne Brückenstipendien und Notfonds Ukraine)
Saturn-ähnliches Dekortationsbild

Relevante Ereignisse der letzten 10 Jahre (Kennzeichnung in der Grafik)

1. Syrien: Die prekäre Lage innerhalb des Landes – seit 2011 im Bürgerkrieg – sowie in den Nachbarländern, wo viele Syrer*innen Zuflucht fanden, löst ab 2015 eine große Fluchtbewegung aus.
2. Türkei: Ein Putschversuch scheitert im Juli 2016. Die Regierung geht zunehmend hart gegen vermeintliche Oppositionelle vor mit Massenentlassungen und Repressalien auch an Unis.
3. Afghanistan: Nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen im Mai 2021 nehmen die Taliban zunächst Kabul und bis Ende September nach eigenen Angaben alle Provinzen des Landes ein.
4. Ukraine_ Am 24. Februar 2022 beginnt Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Lage hatte sich bereits 2021 stark zugespitzt; viele Ukrainer*innen begaben sich auf die Flucht.
5. Iran: Der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 infolge von Polizeigewalt löst eine der größten Protestwellen seit Jahrzehnten aus.
6. Russland Nach der Invasion der Ukraine verschärft sich die innenpolitische Lage weiter. Russ*innen fliehen aus politischen Gründen wie auch aus Angst vor der Einberufung zum Kriegsdienst.

Infotafel: Entwicklung der Bewilligungszahlen der 6 häufigsten Herkunftsländer

142 Hochschulen haben mittlerweile PSI-Geförderte aufgenommen und Strukturen und Kompetenzen aufgebaut, um sie bestmöglich einzubinden. Dafür stellt die Stiftung den Gasteinrichtungen neben den Stipendienleistungen zusätzliche Mittel zur Verfügung. Vernetzung ist ein weiterer, zentraler Baustein. So bringt das jährliche Philipp Schwartz-Forum Geförderte, Gasteinrichtungen, Mentor*innen, Politik und internationale Partner*innen zusammen. Es hat sich inzwischen auch international als festes Austauschformat etabliert. 

Hinter alldem steht eine Grundüberzeugung: Wissenschaft muss frei sein – weltweit.

Grafiken: Die Philipp Schwartz-Stipendiat*innen nach Geschlecht und Fachgebiet

Wissenschaftsfreiheit – Für viele keine Realität

„Wissenschaftsfreiheit ist Teil des Rechts auf Forschung und nach Ansicht vieler Expert*innen auch der Rechte auf Bildung und Meinungsfreiheit“, sagt Katrin Kinzelbach, Professorin für Menschenrechtspolitik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie hat unter anderem den renommierten Academic Freedom Index mitentwickelt. Jährlich gibt dieser Auskunft, über den Stand der Wissenschaftsfreiheit in 179 Ländern. Die 2024 veröffentlichten Zahlen zeigen: Fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Ländern, in denen die Forschungsfreiheit derzeit stark eingeschränkt ist. Und nur jeder dritte Mensch lebt in einem Land mit gutem bis sehr gutem Schutz für die freie Forschung.

„Im Kern geht es darum, dass Forschende gemäß der akademischen Eigenlogik und frei von staatlichem und nicht-staatlichem Druck nach Erkenntnis suchen können“, erklärt Kinzelbach. Sie begleitet die Philipp Schwartz-Initiative seit Beginn, unter anderem war sie im Auswahlausschuss tätig. „Wichtig ist nicht nur der Schutz individueller Rechte, sondern auch die Achtung der Autonomie von Forschungsinstitutionen.“ 

„Die Regierung übte massiven Druck aus. Niemand traute sich mehr, offen zu sprechen.“
Jeff Wilkesmann, venezolanischer Biochemiker

Forschungsfreiheit nicht als Selbstverständlichkeit betrachten

Was passiert, wenn diese Freiheit schwindet, erlebte der Biochemiker Jeff Wilkesmann ab 2014 in Venezuela. „Die Regierung übte massiven Druck aus. Professor*innen verschwanden nach kritischen Äußerungen. Niemand traute sich mehr, offen zu sprechen“, erinnert sich der PSI-Alumnus. Kolleg*innen aus Deutschland machten ihn auf das Programm aufmerksam.

Ein Mann mit rot-blauer Gesichtsbemalung und einem Band mit der Aufschrift 'VENEZUELA' um den Mund, zeigt Protest und Entschlossenheit.
Venezuela, Mai 2014: Studierende protestieren gegen die Regierung Nicolás Maduros, die eskalierende Wirtschafts- und Staatskrise, steigende Kriminalität, Korruption und Inflation im Lande. Sicherheitskräfte reagieren mit Räumungen, Massenverhaftungen und Gewalt. Mit Unterstützung der Philipp Schwartz-Initiative konnte Jeff Wilkesmann neue Perspektiven entwickeln.

2017 kam er mit seinen beiden Kindern und seiner Frau, die als Biochemikerin ebenfalls eine Förderung der Philipp Schwartz-Initiative erhielt, an die Hochschule Mannheim. „Mir haben die Entwicklungen in Venezuela die Augen geöffnet“, sagt er. „Das Sprichwort, dass man erst weiß, was man hat, wenn man es verliert, ist wirklich wahr: Vorher hatte ich Forschungsfreiheit für selbstverständlich gehalten.“

Wissenschaft im Exil: Chancen durch die Philipp-Schwartz-Initiative

Von ihren Erlebnissen geprägt ist auch die pharmazeutische Chemikerin Rana Alsalim aus Syrien. Mit dem Ziel, lokale Pharmaunternehmen bei der Herstellung dringend benötigter Medikamente zu unterstützen, baute sie in Damaskus während des Bürgerkrieges eine Arbeitsgruppe zu naturstoffbasierten Krebsmedikamenten auf. Doch das interdisziplinäre Projekt stieß auf bürokratische Barrieren, bekam keine Fördermittel. Dann fielen Bomben auf die Labore. 

Über einen Kollegen erfuhr Alsalim von der Philipp Schwartz-Initiative. Die Bewerbung verlief reibungslos. „Ich wurde wegen meiner Qualifikationen sehr schnell angenommen“, erinnert sich die Forscherin. Kolleg*innen unterstützten sie bei ihrer Ankunft 2017 in Berlin, halfen ihr, eine Wohnung zu finden, sich beruflich neu zu orientieren.

Die Kraft der syrischen Diaspora für Wissenschaft und Veränderung 

Die Situation in Syrien verfolgt die Forscherin weiterhin sehr genau und nach wie vor mit großer Sorge. „Es gibt in Syrien keine freie Forschung mehr. Für mich war das ein Hauptgrund, das Land zu verlassen“, sagt sie. Zunächst habe sie auf Verbesserungen nach dem Regimewechsel gehofft, diese seien bislang jedoch nicht eingetreten.

Religiös motivierte Morde seien mittlerweile an der Tagesordnung. Entsprechend könne sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren: Alsalim gehört zur alawitischen Minderheit. Von ihrer syrischen Universität wurde sie mittlerweile entlassen, sie vermutet, aufgrund ihrer Konfession. „Auch das zeigt, dass akademische Freiheit in meinem Heimatland in weite Ferne gerückt ist, insbesondere für Frauen und Minderheiten.“

„Für Forschende im Exil ist Wissenschaftsfreiheit die Grundlage, um neu anzufangen.“
Rana Alsalim, syrische Krebsforscherin

Darauf macht Rana Alsalim aus der Diaspora heraus öffentlich aufmerksam. Sie spricht auf Podien wie beim Philipp Schwartz-Forum 2025 in Berlin, wo die Stiftung syrische Exilant*innen zusammenbrachte – auch mit der Hoffnung, durch eine Stärkung der syrischen Diaspora positiv auf die Entwicklungen vor Ort einwirken zu können. „Für Forschende im Exil ist Wissenschaftsfreiheit nicht nur ein abstraktes Prinzip“, betont Alsalim. „Sie ist die Grundlage, um neu anzufangen, sich zu vernetzen und einen Beitrag zur globalen Wissenschaft zu leisten.“

Kampf um Anerkennung 

Im Zuge ihrer Förderung der Philipp Schwartz-Initiative arbeitete Alsalim zunächst als Postdoktorandin in einer Gruppe für medizinische Chemie, wechselte später in die Industrie. Ihre Erfahrungen im deutschen akademischen Betrieb beschreibt sie als Kampf um Anerkennung. Sie stoße als ausländische Forscherin auf Vorbehalte, fühle sich in ihren Leistungen und Qualifikationen nicht immer wertgeschätzt. „Meine Ziele sind jetzt, mir eine Festanstellung in einem großen Pharmaunternehmen zu sichern und ein Visum für meinen Mann zu erhalten, damit er zu mir kommen kann.“

Die Rolle der Gastinstitutionen der Philipp-Schwartz-Initiative

Mit solchen Biografien ist Ulrike Freitag immer wieder konfrontiert. Die Islamwissenschaftlerin leitet das Berliner Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), das seit dem Start der Philipp Schwartz-Initiative regelmäßig gefährdete Forschende aufnimmt. „Wir arbeiten zu Regionen wie dem Nahen Osten, Afrika oder Zentralasien und erleben oft, wie brenzlig es für Forschende vor Ort werden kann“, sagt Freitag. „Für uns ist es selbstverständlich, unter Druck geratene Kolleg*innen aktiv zu unterstützen.“

Wichtig sei, dass die Kandidat*innen zum Forschungsprofil des ZMO passen. Zudem achte man auf realistische Karrierechancen in Deutschland. „Die dauerhafte Integration in den deutschen akademischen Arbeitsmarkt nach Ende der Förderung ist die größte Herausforderung“, berichtet Freitag aus ihrer Erfahrung als wissenschaftliche Gastgeberin und Mentorin.

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wissenschaftliche Gastgeber*innen und Mentor*innen betreuen die Fellows

76 davon als Multi-Gastgeber*innen, die zwischen 2 und 5 PSI-Fellows aufgenommen haben.

Grafik: Gastinstitutionen der Philipp Schwartz-Stipendiat*innen. 48 Prozent sind Universitäten, 20 Prozent Hochschulen, 32 Prozent sonstige Forschungseinrichtungen.

Ein Merkmal der Philipp Schwartz-Initiative, das sie von anderen, meist nur auf wenige Monate ausgelegten Förderprogrammen unterscheide: Fellows werden bis zu drei Jahre lang unterstützt – Zeit, um nach belastenden Erfahrungen Fuß zu fassen und wieder voll in die Forschung einzusteigen. Flankiert wird die Förderung von weiteren Unterstützungsangeboten und dem oft hoch engagierten Einsatz der Hochschulverwaltungen. „Inzwischen haben wir eine Kollegin eingestellt, die bei Ämtergängen und beim Ausfüllen von Formularen hilft, intensiv berät, wenn die Fellows Fördergelder für Folgeprojekte beantragen“, berichtet etwa Ulrike Freitag. 

55 Prozent aller Alumni der Philipp Schwartz-Initiative fanden bislang erfolgreich eine Anstellung oder Folgefinanzierung – die meisten im deutschen Wissenschaftsbetrieb, andere im Ausland oder im nicht-akademischen Bereich. Die Rückkehr ins Herkunftsland ist seltener möglich als erhofft – wegen der anhaltend schlechten Bedingungen.

Deutschlandkarte mit Standorten der Gastinstitute der Philipp-Schwartz-Stipendiaten
Download
(Karte mit Nennung der Universitäten zum Download)

Wenn Rückkehr keine Option ist 

Die Hoffnung, zurückkehren zu können, hat etwa Jeff Wilkesmann aus Venezuela aufgegeben. Für ihn und seine Familie sei die Gefahr schlicht zu groß. Als 2019 seine Förderung der Philipp Schwartz-Initiative auslief, schrieb er unermüdlich Bewerbungen in Deutschland. Zunächst arbeitete er im Wissenschaftsmanagement, fand dann 2024 eine feste Stelle als Professor an der Technischen Hochschule Deggendorf. Hier hat er die wissenschaftliche Leitung des Bioengineering Transformation Lab inne, seine Frau forscht im Labor nebenan. Auf seinem mitunter zähen Weg habe ihm die PSI sehr geholfen: „Als Fellow ist man Teil eines großen Netzwerks, kann jederzeit um Rat fragen.“

Auf ein dauerhaftes Leben in Deutschland stellt sich derzeit auch die afghanische Informatikerin Mursal Dawodi ein. In Kabul war sie Juniorprofessorin, spezialisiert auf KI-gestützte Übersetzungen der Sprachen Dari und Paschtu.

„Frauen wurde der Zutritt zur Universität verboten, mein Arbeitsvertrag für ungültig erklärt.“
Mursal Dawodi, Informatikerin aus Afghanistan

Nach der Machtübernahme der Taliban endete ihre Karriere abrupt: Ihr Arbeitsvertrag wurde für ungültig erklärt, Frauen der Zutritt zur Universität verboten. Seit 2024 forscht sie an der Technischen Universität München – gefördert durch die Philipp Schwartz-Initiative. Ihr Projekt: mithilfe maschinellen Lernens Hassrede und frauenfeindliche Inhalte in afghanischen Online-Texten erkennen. „Manche glauben, meine Forschung richte sich gegen die Kultur und Religion meines Heimatlandes“, sagt Dawodi, die 2023 mit der Ehrenmedaille des renommierten „For Women in Science“-Preises für Forscherinnen im Exil ausgezeichnet wurde. „Dabei will ich nur, dass Frauen im Netz sicher sind.“

Eine junge Frau mit Kopftuch und Maske hält ein Schild mit der Aufschrift 'Bildung ist unser Recht' in einer belebten Umgebung.
Kabul, Afghanistan, Oktober 2021: Lehrerinnen und Studentinnen demonstrieren für gleiche Rechte und Bildung für Frauen und Mädchen. Mursal Dawodi ging nach der Machtübernahme der Taliban mit der Philipp-Schwartz-Initiative nach Deutschland.

Gastbeitrag von Außenminister Johann Wadephul: Wie Deutschland Wissen als Grundlage politischer und gesellschaftlicher Entscheidungsfähigkeit bewahrt und stärkt. 

Philipp Schwartz-Initiative als Brücke in ein neues Leben

Den Neustart in Deutschland erlebten sie und ihre Familie als herausfordernd. „Wir waren psychisch stark belastet durch die Erlebnisse in Afghanistan und hatten viele Probleme mit der deutschen Bürokratie“, so die Forscherin. „Zudem hatte ich den Eindruck, dass meine neuen Kolleg*innen mir sehr viel voraushaben. Das hat mich stark gestresst.“ Ein Grund dafür seien unterschiedliche Bildungshintergründe: Während Schulen und Hochschulen in Deutschland und Europa breites Allgemeinwissen lehren, würde afghanischen Mädchen meist nicht einmal rudimentäres Englisch beigebracht. 

Für mehr Bildungsgerechtigkeit engagiert sich Dawodi mit der von ihr gegründeten gemeinnützigen Organisation Femstech. Diese fördert die digitale Bildung marginalisierter Gruppen – besonders von Frauen in Afghanistan – durch Online-Weiterbildungen in den Bereichen IT, Programmierung, KI und Webentwicklung sowie durch Mentoring und Coaching. 

Die Förderung ihrer Forschung durch die Philipp Schwartz-Initiative beschreibt Mursal Dawodi als „Brücke in ein neues Leben“, in dem sie ihre Forschungsagenda selbst definieren könne. Für sie, so die KI-Forscherin, sei Wissenschaftsfreiheit schlicht lebensnotwendig. „Genau deshalb wird sie von autoritären Regimen so oft bekämpft.“

Ein Mädchen steht auf einem Auto und hebt die Hände in die Luft, während eine große Menschenmenge und viele Autos zu sehen sind.
Saqqez, Kurdistan, Iran, Oktober 2022: Menschen auf dem Weg zum Friedhof, um an Jina Mahsa Amini zu erinnern, die infolge von Polizeigewalt starb. Aminis Tod löst im Iran eine der größten Protestwellen seit Jahrzehnten aus. Es kommt zu Verfolgungen auch von Forschenden. Im April 2023 wird das Sonderprogramm Iran der Philipp-Schwartz-Initiative aufgesetzt.

Korrektiv unter Druck

Ähnlich äußert sich Robert Quinn, Executive Director des internationalen Scholars at Risk Network. Die Organisation mit Hauptsitz an der New York University ist seit Gründung der Philipp Schwartz-Initiative ein enger Partner, unterstützt die sie unter anderem dabei, die Gefährdungslage von Forschenden einzuschätzen

„Wissenschaftsfreiheit berührt die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen“, betont Quinn. „Freie Wissenschaft sucht nach der Wahrheit, hilft uns durch ihre Erkenntnisse autonome und gute Entscheidungen zu treffen und konstruktiv mit Herausforderungen und unterschiedlichen Meinungen umzugehen.“ Das hierbei generierte Wissen sei nicht nur eine Orientierungshilfe, sondern wirke auch als gesellschaftliches Korrektiv. „Von einer freien Wissenschaft müssen sich Machthabende kritische Fragen gefallen lassen. Genau das aber wollen Autokraten vermeiden“, sagt er. „Statt auf Fakten stützen sich solche Menschen auf das Prinzip: ‚Weil ich es sage‘ – egal, ob ihre Worte der Realität entsprechen oder nicht.“

Wie steht es aktuell um die globale Wissenschaftsfreiheit? Stiftungspräsident Robert Schlögl und Robert Quinn, Executive Director des Scholars at Risk Network, im Gespräch zur globalen Repression von Forschenden 

Entwicklung von Wissenschaftsfreiheit in den USA und in Europa

Beim Thema Wissenschaftsfreiheit galten die USA bis vor wenigen Jahren noch als eine der führenden Nationen. Nun erlebt Quinn aus nächster Nähe, wie sich die politische Kultur seines Landes massiv verändert – und was das auch für den Schutz gefährdeter Forschender bedeutet. „Europa unternimmt in diesem Bereich viel mehr und hat die USA in Bezug auf die Förderung akademischer Freiheit inzwischen überholt“, so der Jurist. 

Dennoch könne man sich in Europa nun nicht entspannt zurücklehnen. Angesichts der politischen Verwerfungen in Teilen Europas warnt er: „Die Zeit, in der wir uns auf allgemeine Grundsatzerklärungen und eine Tradition der Zurückhaltung von Regierungen verlassen konnten, ist vorbei.“ Entsprechend sollten europäische Entscheidungsträger*innen die freie Forschung in ihren Ländern nun so schnell und so gut wie möglich rechtlich absichern.

Wissenschaftsfreiheit in Deutschland  – noch immer geschätzt und geschützt

Mit Blick auf aktuelle Daten aus dem Academic Freedom Index spricht die Politikwissenschaftlerin Katrin Kinzelbach von einem leichten Rückgang der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland. Insgesamt sei sie jedoch weiterhin sehr gut geschützt. „Einfache Rezepte, das dauerhaft abzusichern, gibt es aber nicht“, betont sie. „Alle Freiheiten sind errungen und somit potenziell bedroht. Wir müssen sie aktiv verteidigen.“ Dazu brauche es Allianzen, Praktiken, Strukturen – national, europaweit, international. „Die Philipp Schwartz-Initiative ermöglicht die Aufnahme gefährdeter Kolleginnen und Kollegen – das ist eine Solidarisierungspraktik.“ 

Philipp Schwartz-Initiative – ein Appell an Wissenschaftsfreiheit und gesellschaftliche Verantwortung

„Wir haben das große Glück, in einem Land zu leben, das die Wissenschaftsfreiheit noch immer schätzt und schützt, auch mit Steuergeldern“, resümiert Judith Wellen von der Humboldt-Stiftung. Nicht zuletzt die Philipp Schwartz-Initiative sei ein Ausdruck dieses Bekenntnisses zur Wissenschaftsfreiheit. Gleichzeitig wirke die Initiative auch als Mahnung: „Die Erfahrungen von Fellows wie Jeff Wilkesmann, Mursal Dawodi oder Rana Alsalim zeigen: Wissenschaftsfreiheit stirbt in kleinen Schritten.“ Oft geschehe das schleichend und zunächst unbemerkt – durch Schmähungen, sozialen Druck, Selbstzensur, Gedanken, die nicht ausgesprochen, Posts, die nicht veröffentlicht, Forschungsideen, die nicht umgesetzt würden. 

„Die offene Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit“, appelliert Wellen, „sie braucht unser tägliches Handeln.“ Robert Quinn unterstreicht diese gesellschaftliche Verantwortung: „Wir müssen Wissenschaftsfreiheit mit aller Kraft als zentralen Wert in unserer Kultur verankern. Wir müssen vermitteln, dass ein freies, selbstbestimmtes Leben auf freier Forschung und einer Kultur des Wissens beruht.“

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